6.4 Unter falschem Verdacht

Die Schiffe im Hafen von Triest liegen im gleißenden Sonnenlicht. Es strahlt so hell, dass sie kaum zu erkennen sind. Simon muss die Augen mit der Hand abschirmen, um überhaupt etwas im grellen Licht zu erkennen. Er sitzt in einem Kaffeehaus an der Piazza Grande und hängt den Erlebnissen der letzten Tage nach.
„Entschuldigung?“, reißt ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Mit fragendem Gesichtsausdruck steht ein groß gewachsener Mann vor seinem Tisch. Simon wird klar, dass der Herr ihn schon einmal angesprochen haben muss, ohne dass er das richtig bemerkt hat. „Ist der Stuhl hier noch frei?“, wiederholt der Herr immer noch freundlich seine Frage. Er hat eine markante Nase, schmale Lippen und ordentlich gescheitelte dunkle Haare, die ihm bis auf den Jackenkragen reichen.
„Verzeihen Sie“, erwidert Simon. „Setzen Sie sich doch.“
„Gestatten, Josef Ressel.“
Ein Kellner kommt zu ihnen und Simon bestellt einen weiteren Mokka, dem sich Josef Ressel anschließt.
„Was treibt Sie nach Triest, Herr Brown?“
„Ich werde in ein paar Tagen nach Alexandria übersetzen.“ Simon lächelt höflich. „Darf ich auch neugierig sein? Sind Sie von hier? Ihre grüne Uniform lässt mich darauf schließen, dass Sie Jäger oder Förster sind.“
Josef Ressel lächelt zustimmend. „Gut geraten! Ich wohne mit meiner Familie hier in Triest und bin Forstbeamter, genauer gesagt, k. u. k. Marineforstintendant der küstenländischen Domäneninspektion in Triest.“
„Marineforstintendant? Sie sind also dafür verantwortlich, dass genügend Holz zum Bau der Schiffe vorhanden ist?“
„Ja, genau. Das Kaisertum Österreich baut die k. u. k. Kriegsmarine im Mittelmeer aus. Dazu werden unter anderem große Mengen Holz benötigt. Und was machen Sie beruflich, Herr Brown?“
Simon erzählt dem Triester von seinem Unternehmen, der „Ocean Dream“ und von seiner Reise durch Europa.
„‚Ocean Dream‘“, Ressel nickt anerkennend. „Schöner Name. Ein Vollschiff mit drei Masten?“
„Ja, genau, ein Clipper, ein ausgesprochen schneller Frachtsegler mit einer speziellen Bugform, schmal und lang geschnitten. Liegt ausgezeichnet im Wasser und erreicht beachtliche Geschwindigkeiten. Sie wurde bei Rickleby & Smith in Boston auf Kiel gelegt.“
In diesem Moment tritt der Kellner wieder zu ihnen an den Tisch. In der Hand hält er eine Servierplatte mit zwei Stück Schokoladenkuchen, die er ihnen lächelnd präsentiert. „Äußerst schmal geschnitten und ausgesprochen lecker. Interesse, meine Herren?“
„Schauen wir uns mal an“, meint Ressel nur halb aufmerksam. „Lassen Sie den Kuchen ruhig hier und bringen Sie uns noch zwei Mokka, bitte schön.“ Simon nickt zustimmend.
„Ach, es gibt doch nichts Schöneres als einen voll aufgetakelten Großsegler, der bei steifer Brise hart am Wind liegt und seine Linie durchs Wasser schneidet!“, seufzt Josef Ressel begeistert und macht sich über den Schokoladenkuchen her. „Aber, Brown, wenn Sie in Schiffe investieren, vergessen Sie die neumodischen Dampfschiffe nicht!“
Simon nickt und nimmt einen weiteren Schluck von seinem Mokka. „Ohne Zweifel: Die Entwicklung der Dampfschiffe wird sich fortsetzen, und das darf man nicht ignorieren. Gleichwohl sehe ich da auch Probleme, die es zu lösen gilt. Zum einen brauchen die Dampfmaschinen eine Unmenge an Kohle, die auf einem Schiff ziemlich viel Platz benötigt, der dann für die Fracht nicht mehr zur Verfügung steht. Zum anderen gibt es die Kohle auch nicht umsonst.“
„Wohl wahr, wohl war“, bestätigt Ressel aufmerksam.
„Auf Flüssen oder Seen sieht die Sache anders aus“, fährt Simon fort. „Die Windgegebenheiten sind komplizierter und machen Segelmanöver schwieriger oder oftmals sogar unmöglich. Dagegen können Kohledepots relativ einfach am Ufer angelegt werden. Optimal wären natürlich effektivere Dampfmaschinen, die bei wesentlich höherer Leistung viel weniger Kohle verbrauchen würden. Aber dann ist da immer noch das Problem mit den Schaufelrädern, die sich mehr über als unter Wasser befinden und meiner Meinung nach einen recht schlechten Wirkungsgrad haben. Zudem werden sie bei schwerem Seegang wahrscheinlich zum Totalausfall, weil sie zeitweise den Kontakt zur Wasseroberfläche verlieren.“
„Ihre Ansicht über die Dampfmaschine teile ich“, stellt der Förster anerkennend fest, „aber für das Problem mit den Schaufelrädern gibt es eine Lösung, eine Art archimedische Schraube, die unter dem Schiff angebracht ist. Und ich habe bereits seit 1827 ein in Österreich eingetragenes Patent darauf.“
„Ein Patent?“ Simon hebt erstaunt die Brauen.
„Ja, aber was nützt es mir, wenn sich niemand dafür interessiert?“
Einige Zeit sitzen die beiden Männer noch zusammen und plaudern, dann trennen sich ihre Wege wieder. Aber die neuartige Schiffsschraube von Josef Ressel beschäftigt Simon noch den ganzen Tag über.
Am Dienstagmittag macht er sich auf den Weg zum Hafenmeister, um in Erfahrung zu bringen, ob bereits Nachrichten für ihn von Thomas Waghorn oder Robin Frost vorliegen. Schon als er sich dem Hafen nähert, stellt er eine rege Betriebsamkeit fest. Alle Molen sind belegt, und in der Bucht liegt eine größere Anzahl an Schiffen vor Anker. Auch im Büro des Hafenmeisters sind die Mitarbeiter beschäftigt, sodass es einige Zeit dauert, bis ihn jemand anspricht: „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag. Mein Name ist Simon Brown, und ich würde gerne morgen nach Alexandria übersetzen.“
„Das ist die ‚Potere di Seduzione‘“, nickt der Mitarbeiter. „Die legt morgen um 10 Uhr von der Mole Audace ab.“
„Ich bin mit einem der Herren Thomas Waghorn oder Robin Frost verabredet“, erklärt Simon, „und man sagte mir, ich solle mich hier beim Hafenmeister erkundigen. Das wäre die einfachste Lösung. Allerdings ist das schon einige Monate her.“
„Das muss ich erst in Erfahrung bringen, ich bitte um ein wenig Geduld.“ Der Mitarbeiter verschwindet in den hinteren Räumlichkeiten des Büros, kehrt nach einigen Minuten zurück und händigt Simon sein Ticket aus. „Herr Brown, Lieutenant Frost von Waghorn & Co. ist ihr Ansprechpartner. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie heute Abend gerne in die Osteria ‚Vecchio Amico‘ kommen können; dort werden einige der Reisenden zusammensitzen. Ansonsten seien Sie morgen bitte pünktlich; die ‚Potere di Seduzione‘ wartet nicht auf Sie.“
„Danke, ich werde pünktlich sein.“
Simon beschließt, noch eine Presnitz, eine typische Triester Süßigkeit, zu naschen; anschließend geht er den Weg zur Zitadelle hinauf, um einen letzten Blick über Triest zu werfen. Am späten Nachmittag besucht er Magdalena bei einer ihrer Proben im Teatro Grande, um ihrer eindrucksvollen Stimme zu lauschen und sich von der Sängerin zu verabschieden. Sie lassen den Abend zusammen in einem Restaurant ausklingen und Simon berichtet von seinen weiteren Plänen. Der Schiffsname „Potere di Seduzione“ verursacht bei Magdalena ein herzhaftes Lachen und sie muss sich sichtbar zusammenreißen, es nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Auf Simons Kopfschütteln hin erklärt sie ihm, dass der Name „Macht der Verführung“ bedeutet, worüber er nun selber lachen muss. Das ist sein Abschied von Triest und einem aufregenden Reiseabschnitt.

Am nächsten Vormittag, dem Morgen des 25. Februar 1835, steht Simon an der Mole Audace vor einem in die Jahre gekommenen Dreimaster und muss feststellen, dass die „Potere di Seduzione“ vermutlich wegen ihres fortgeschrittenen Alters einen großen Teil ihres Charmes bereits eingebüßt hat. Er schließt sich den vor der Gangway wartenden Personen an, deren Fahrscheine von zwei Matrosen kontrolliert werden.
Endlich an Deck angekommen, versucht Simon sich zunächst zu orientieren, doch da kommt auch schon ein großer, hellblonder Mann auf ihn zu. Er trägt eine auffällige sandfarbene Armeejacke, die hier an Ort und Stelle ein wenig sonderbar wirkt. Es ist Robin Frost. „Hallo, Mr. Brown, wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie hatten eine genauso angenehme Anreise wie wir!“
„Guten Tag, Lieutenant. Schön Sie zu sehen!“, erwidert Simon erfreut den Gruß. „Ich war erstaunt, dass sogar mein Fahrschein bereits gelöst war. Wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben, fast ein Dreivierteljahr? Ich bin beeindruckt.“
„Das müssen Sie nicht sein, Mr. Brown. Mitte Dezember erreichte uns eine Buchungsanfrage für die Reise von Simon Brown Traders aus Boston. Mitte Januar wurde der Rechnungsbetrag per Wechsel bezahlt.“
Simon ist verdutzt, aber da fällt ihm ein, dass er im Herbst einen Brief an Ashley Rickleby geschrieben hat, in dem er unter anderem erwähnte, er wolle im Februar mit Waghorn & Co. quer durch die Wüste nach Bombay reisen.
„Danke, Mr. Frost, gut zu wissen.“
Robin Frost klopft ihm leicht auf die Schulter und zeigt in Richtung Hauptmast. „Dort drüben finden Sie einige Angehörige unserer Reisegruppe: sechzehn Reisende, zwei Mitarbeiter von Waghorn & Co., Jussuf Qasim und meine Wenigkeit – und natürlich eine große Menge an Postboxen.“
Als Simon sich zu den anderen Reisenden gesellt, wird er von einem glatzköpfigen, untersetzten Mann angesprochen, der sich als Cliff Hawkings vorstellt. „Sie sind also der Amerikaner, der hier in Triest zur Gruppe stoßen soll?“
„Ja, guten Morgen allerseits“, grüßt Simon in die Runde.
Hawkings nimmt einen tiefen Zug aus einer dicken Zigarre und bläst den Rauch einer neben ihm stehenden schlanken, strohblonden Frau ins Gesicht, deren Sommersprossen ihr ein niedliches Aussehen verleihen. Die Dame schüttelt sich und wedelt mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Der rotblonde Offizier an ihrer Seite in der Uniform der East India Company wendet sich an den Raucher: „Mr. Hawkings, unterstehen Sie sich, meiner Gattin ihren Rauch ins Gesicht zu blasen!“
„Ach, Eltringham“, lacht Hawkings meckernd, „immerhin eine echte Brasil. Qualität sollten auch Sie zu schätzen wissen.“
Major Eltringham, so viel Zeit muss sein.“
„Major Eltringham“, wiederholt Hawkings, wobei er einen gelangweilten Gesichtsausdruck aufsetzt und das Wort „Major“ betont lang ausspricht. Dann wendet er sich wieder überfreundlich der zierlichen Offiziersgattin zu: „Suchen Sie sich in der tropischen Hitze Indiens lieber einen qualmenden Begleiter, Mrs. Eltringham. Mosquitos mögen keinen Rauch.“
Gerade als der Major im Begriff ist, auf diese freche Anspielung zu reagieren, tritt Robin Frost mit einem orientalisch aussehenden Mann mittlerer Größe zu ihnen, dessen pechschwarzes Haar und markanter Stoppelbart ins Auge stechen.
„Mr. Brown, Sie beide kennen sich noch nicht: Das hier ist Jussuf Qasim von Waghorn & Co. Sollte ich nicht verfügbar sein, wenden Sie sich gerne an ihn, wenn Sie Fragen haben.“
Simon und Jussuf Qasim begrüßen sich freundlich.
„So, meine Damen und Herren, wie Sie bereits bemerkt haben dürften, ist unser letzter Passagier zu uns gestoßen, Simon Brown aus Boston. Ich werde Ihnen jetzt Ihre Kabinen zuteilen; deshalb möchte ich noch um ein wenig Geduld bitten. Mr. und Mrs. Eltringham bekommen die Nummer 2, Mr. und Mrs. Hodgson die Nummer 4, die Mistresses Garner, Ward und Patel Nummer 6, Mr. Hawkings und Mr. Campbell …“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, platzt es aus Hawkings heraus. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf einen jungen Offizier, der es sich auf einer Holzkiste gemütlich gemacht hat. „Mit diesem Sepoy kann ich mir kein Zimmer teilen, das ist eine Zumutung.“
„Mr. Hawkings, ich bitte Sie, den Ton zu wahren! Es gibt keine freien Kabinen mehr an Bord.“
„Nein, Mr. Frost, das können Sie nicht von mir verlangen! Mit einem Inder teile ich keine Kabine!“
Erstaunt stellt Simon fest, dass der Offizier, um den sich im Augenblick alles zu drehen scheint, völlig unbeeindruckt und ruhig auf der Holzkiste sitzen bleibt. „Entschuldigen Sie, Lieutenant Frost“, mischt sich Simon ein, „wäre es vielleicht möglich, dass ich die Kabine mit Mr. Campbell teile, wenn er nichts dagegen hat?“
„Ja, natürlich, hm, lassen Sie mich kurz schauen.“ Lieutenant Frost überfliegt seinen Notizzettel. „Hawkings, Sie teilen sich demnach nun die Kabine Nummer 6 mit Mr. Paine.“
„Dagegen habe ich nichts einzuwenden“, grinst der feiste Brite, streicht sich über seine Glatze und zieht an seiner Zigarre.
„Brown und Campbell, Ihre Kabine ist nun die 10.“ Frost bekommt nacheinander von Simon und Campbell ein zustimmendes Nicken.
Einige Minuten später sitzen sich die beiden in ihrer Kabine auf ihren Kojen gegenüber.
„Danke, Mr. Brown, das war sehr freundlich von Ihnen“, beginnt der Inder ihre Unterhaltung.
„Kein Problem. Leuten wie Hawkings gehe ich am liebsten aus dem Weg. Ich bin übrigens Simon.“
Der andere antwortet mit einem offenen Lächeln. „Nenn mich gerne Raj.“
„Gut, Raj. Der Uniform nach zu urteilen bist du auch bei der East India Company?“
„Ja, so ist es. Ich gehöre der Bombay Army an, genauer gesagt, der Northern Division, stationiert in Ahmedabad, und bin als Second Lieutnant im Poona Horse Regiment tätig. Übrigens bin ich ein Sawar, kein Sepoy.“
„Sawar?“ Simon versteht nicht ganz.
„Wir Sawar sind indische Soldaten in der Kavallerie, wohingegen die Sepoys indische Infanteristen sind. Die höheren Offiziersränge sind Briten vorbehalten.“
„Aber du bist ein Second Lieutnant, dann bist du Brite?“
Raj lächelt. „Auch wenn man aufgrund meines Aussehens zu einem anderen Schluss kommen könnte, ja. Hawkings Verhalten ist mir nicht unbekannt. In Offizierskreisen in England oder Indien schlagen mir derartige Reaktionen öfter entgegen – dunkle Haut, schwarze Haare, braune Augen und eine Narbe auf der rechten Wange, das schürt Vorurteile. Ganz anders sieht das aus, wenn ich mich zwischen Indern bewege; da werde ich nicht aufgrund meines Aussehens, sondern meines Rangs und meines Auftretens beurteilt.“
Simon hat seinem Gegenüber aufmerksam zugehört. „Deshalb bist du vorhin auch so ruhig geblieben. Du erlebst so etwas immer wieder …“
Raj zuckt mit den Schultern. „Genau – aber zurück zu deiner eigentlichen Frage: Ich bin Brite. Mein Vater, Edward Campbell, war neben meinem Onkel Eigentümer einer Fabrikation für Jute im schottischen Dundee. Sie produzierten hauptsächlich Säcke und Seile, wofür mein Vater immer wieder nach Bombay reiste. In der dortigen Niederlassung lernte er meine Mutter kennen, eine Inderin namens Sada, die auch die englische Sprache beherrschte. Sie verliebten sich ineinander, heirateten, und am 15. April 1810 kam ich im schottischen Carlisle zur Welt, weil sie dort gerade meinen Onkel Gerard und meine Tante Louise besuchten, denen sie sehr nahestanden. Mein voller Geburtsname ist übrigens Richard Louis Campbell. Die ersten neun Jahre meines Lebens verbrachte ich überwiegend bei meiner Mutter in Bombay, während mein Vater weiterhin viel auf Reisen war. Meine Eltern waren trotzdem sehr glücklich miteinander und hatten einen großen Bekanntenkreis. Leider sind sie auf dem Weg zu einer Feier verunglückt: Ihre Kutsche stürzte einen Abhang hinunter und meine Eltern verloren dabei ihr Leben.“
„Das tut mir leid“, meint Simon mitfühlend.
„Ich hatte das Glück, dass mein Onkel und meine Tante mich daraufhin nach Schottland holten und meine Erziehung in ihre Hände nahmen. Wir verstehen uns bis heute ausgezeichnet, sodass wir uns immer noch gegenseitig besuchen. Auch jetzt komme ich von ihnen aus Schottland. Im Alter von 17 Jahren trat ich in die Armee der East India Company ein und absolvierte am East India Company Military Seminary in Addiscombe in Surrey meine zweijährige Offiziersausbildung. Jetzt bin ich seit etwa sechs Jahren wieder zurück in Indien.“
„Und woher stammt der Name Raj, wenn du doch eigentlich Richard Louis heißt?“
„Meine Mutter hat mich so genannt. Sie war sich sicher, dass es so für mich in Indien einfacher wäre, als wenn ich mich immer und immer wieder erklären müsste, da ich wie ein Inder aussehe. In Indien bin ich Raj, in Schottland Richard. Heute habe ich mich daran gewöhnt, lebe nun einmal in zwei Welten; früher habe ich darunter gelitten. Mein Onkel sagte immer zu mir: ‚Richard, heute siehst du die Nachteile, aber es wird der Tag kommen, da du die Vorteile erkennst. Du bist ein schlauer Bursche, lernst fix und bist sowohl im Vereinigten Königreich, dem Herzen des Empire, als auch in Indien, der Perle des Empire, zu Hause.‘“
Über die nächsten Stunden tauschen sich Simon und Raj so detailliert über ihre Leben aus, dass sie, als sie am Nachmittag an Deck treten, das Gefühl haben, schon alte Freunde zu sein. Die Sonne strahlt auf sie herab und ein laues Lüftchen umweht ihre Nasen. Als sie sich der Reling nähern, stellen sie fest, dass das Schiff relativ dicht an der Küste entlangsegelt.
„Na, die Herren, gut eingelebt?“ Zwei Offiziere kommen auf sie zu, von denen einer Simon besonders auffällt: Er hat strohblonde Haare, leuchtendblaue Augen und eine ausgeprägte, kantige Gesichtsform.
„Danke, Kapitän“, antwortet er. „Simon Brown, und der Herr neben mir ist Richard Louis Campbell von der East India Company.“
„Mads Rasmussen. In der Tat bin ich der Kapitän dieses Schiffes und das hier an meiner Seite ist mein Erster Offizier, Antonio Colombo.“
„Sagen Sie, Kapitän, um welchen Ort handelt es sich dort drüben am Ufer?“, fragt Simon interessiert nach.
„Das ist Parenzo, eine der bedeutendsten Hafenstädte auf der istrischen Halbinsel. Dort steht die über tausend Jahre alte Euphrasius-Basilika.“
„Sie kennen sich augenscheinlich sehr gut aus“, zeigt sich Raj beeindruckt.
Der Kapitän muss schmunzeln. „Eher ein Zufall. Ich habe die Basilika einmal mit meiner Frau besucht; Annabella stammt aus der Gegend.“
„Im Gegensatz zu Ihnen, oder?“
Rasmussen nickt. „Das ist nicht von der Hand zu weisen – ich fühle mich trotzdem sehr wohl in Triest. Tatsächlich bin ich im norwegischen Kristiansand aufgewachsen und als junger Mann zur Handelsmarine gegangen. Auf einer meiner Schiffsreisen habe ich in Triest meine Annabella kennengelernt. Nun ja … Ich bin an der Adria hängengeblieben, wir haben geheiratet, zwei Töchter bekommen, und mittlerweile bin ich Kapitän.“
Die beiden Offiziere werden von einem Matrosen zum Achterdeck gerufen. Simon und Raj beschließen, sich an Deck noch ein wenig die Beine zu vertreten. Auf ihrem Weg kommen sie an einer Sitzgruppe vorbei, die für die Passagiere unter einem als Sonnenschutz gespannten Segel platziert wurde. Drei der Stühle sind durch die zusammen reisenden Damen Garner, Ward und Patel besetzt, die den beiden schon zuvor kurz vorgestellt wurden.
„Hallo, die Herren Brown und Campbell!“, begrüßt sie eine der beiden jüngeren Frauen mit einem Lächeln.
„Mistresses.“ Raj neigt grüßend leicht das Kinn.
„Wollen Sie uns nicht ein wenig Gesellschaft leisten?“, fragt nun die ältere der Damen, die recht groß und auffallend betont zurecht gemacht ist; sie ist deutlich, aber gekonnt geschminkt und trägt ihre dunkelblonden Haare perfekt frisiert. „Mr. Brown, von Ihnen wissen wir ja noch gar nichts!“
„Gerne.“ Simon und Raj setzen sich auf zwei freie Stühle zu der kleinen Gruppe. „Darf ich denn auch Näheres von Ihnen erfahren?“, wendet sich Simon an die Dame, die zuletzt gesprochen hat.
„Ich bin Mary Garner aus Liverpool“, stellt diese sich vor. „Dort war ich bereits im Gastgewerbe tätig und jetzt möchte ich mich in Bombay mit einem Gästehaus selbstständig machen.“
„Mutige Entscheidung, Mrs. Garner! Ein eigenes Geschäft zu führen, in einem fremden Land, das ist ein großer Schritt.“
In nicht unangenehmer Weise kokett wendet sich Mary Garner ihrem Gesprächspartner zu. „Ja, das stimmt“, erklärt sie mit einem einnehmenden Lächeln, „aber ich habe schon über zehn Jahre eine Art Gästehaus in Liverpool geführt.“ Sie wendet nun den Blick ihren beiden Mitreisenden zu. „Darf ich Ihnen meine Begleiterinnen vorstellen? Die junge Dame zu meiner Rechten ist meine langjährige Freundin Helen Ward; sie stammt wie ich aus Liverpool und ist auch im Gastgewerbe. Neben ihr sitzt ihre Freundin Ruby Patel aus Manchester. Sie hat den Beruf der Modistin gewählt, war in einem Modegeschäft in Liverpool tätig und möchte nun ebenfalls ins Gastgewerbe wechseln.“
Raj hat den Ausführungen interessiert zugehört und wendet sich jetzt an Mary Garner. „Verehrteste, darf ich Ihnen mit meiner Ortskenntnis in Indien einen Rat geben? Seien Sie äußerst kritisch bei der Auswahl der Räumlichkeiten – nicht, dass das Haus nur noch durch Farbe zusammengehalten wird … In Indien läuft vieles etwas anders als zu Hause in England.“
Mary Garner schenkt Raj einen undurchsichtigen Blick. „Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, Mr. Campbell, aber das Gästehaus ist bereits gepachtet. Ich habe den Vertrag zwei Wochen vor unserer Abreise bei der East India Company in London unterschrieben.“
„Bei der East India Company?“, wirft Raj erstaunt ein. „Ich wusste nicht, dass die ein neues Gästehaus in Bombay eröffnet.“
„Ja, und zwar ein sehr feudales Haus, ausschließlich für Offiziere und gut situierte Gäste. Ich selbst war zwar noch nie in Bombay, aber Sie müssten sich ja ein wenig auskennen – das Haus liegt auf der Höhe der Stadtkaserne. Von dort aus läuft eine Straße nach Westen direkt auf die Moor Bastion zu … Es ist das dritte Haus auf der rechten Straßenseite.“
„Die Moor Bastion sagt mir etwas, sie ist etwas nördlich vom Bombay Green gelegen … Die East India Company übernimmt auch das Gastgewerbe?“
Wieder das charmant-überlegene Lächeln der älteren Dame. „Die East India Company hat überall ihre Finger drin! Nicht umsonst ist sie wohl die mächtigste Firma der ganzen Welt, nicht wahr, Mr. Campbell?“
„Dann arbeiten wir also beide für die mächtigste Firma der Welt.“

Beim Abendessen in der Messe lernen Simon und Raj den Rechtsanwalt Thomas Hodgson aus London und seine Gattin Diana kennen, eine junge und lebhafte Frau. Hodgson ist ein großgewachsener Mann mittleren Alters mit dunklem, von einzelnen grauen Strähnen durchzogenem Haar. Er erzählt seinen Reisegefährten, dass er den Eintritt als Partner in eine Rechtsanwaltskanzlei in Bombay erwägt. Diana, seine Angetraute, hat einen Onkel, der als hochrangiger Militärangehöriger in Diensten der East India Company in Bombay steht und dort über ausgezeichnete Beziehungen in Politik und Wirtschaft verfügt. Ihm hat Hodgson die Chance zu verdanken, für eine der einflussreichsten Kanzleien Bombays zu arbeiten. Ganze neunzehn Jahre jünger als ihr Gatte, war Diana von Anfang an vom Abenteuer Indien begeistert. Während Simon den Rechtsanwalt eher als vorsichtig und zurückhaltend erlebt, macht seine Gattin schon bei der ersten Begegnung an Bord einen wesentlich extrovertierteren und mutigeren Eindruck.
Nach dem Essen steigt Simon noch einmal an Deck, um den Tag in Ruhe an der frischen Luft ausklingen zu lassen. Er setzt sich in den Windschutz der mittleren Ladeluke, um dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen zu lauschen und dabei die Sterne zu betrachten. Der ruhige Abend auf See und der Sternenhimmel über ihm lassen ihn unwillkürlich an seine Überfahrt mit der „Whitecap“ nach Amerika denken. An einem solchen Abend hatte er an Deck mitbekommen, wie dieser widerwärtige Flynn Corwin mithilfe seines Kumpans Harold Arthur Rutherfort bedrohte. Simon war damals dazwischengegangen und derart zusammengeschlagen worden, dass er erst nach Stunden bei Doktor Baker wieder zu sich kam. Plötzlich zieht eine Sternschnuppe eine hell leuchtende Spur über das Firmament. Simon muss daran denken, wie er an einem Abend in London mit Marala in der Nähe der Westminster Bridge an der Themse gesessen und den Sonnenuntergang betrachtet hatte. Bei einem zarten Kuss hatten sie sich tief in die Augen geschaut und er war von dem Zauber ihrer wunderschönen Augen unglaublich fasziniert. Simon ist fest davon überzeugt, Marala an ihnen wiedererkennen zu können, egal wie sie jetzt aussehen mag.
Ein ächzender Ton in seiner unmittelbaren Nähe lässt Simon aus seinen Gedanken aufschrecken. Es hört sich so an, als ob sich jemand auf eine alte Holzkiste setzt. Simon kann im Dunkeln nichts erkennen, aber im nächsten Augenblick vernimmt er die unangenehme Stimme von Cliff Hawkings: „Guy, du bist ein Kerl nach meinem Geschmack! Nimmst dir einfach, was du brauchst … Glücksspiel und Schmuggel – das lässt ein aufregendes und einträgliches Leben vermuten.“
„So ist es, Cliff“, antwortet Guy Paine mit seiner für einen Mann ungewöhnlich hohen, nasalen Stimme. „Von Bombay geht’s für mich nach Madras, wo ich mir ein eigenes Casino aufbauen werde.“
„Madras?“
„Ja, ich weiß, was du sagen willst. Madras liegt nicht gerade um die Ecke, aber ich muss erst einmal so weit weg wie möglich verschwinden … Du verstehst, was ich meine.“
„Natürlich … Ausreichend Geld fürs Casino hast du aber wohl?“
„Ja, selbstverständlich habe ich Geld, und sonst weiß ich auch, wie ich an Geld herankomme. So ein Casino ist eine Goldgrube – ich muss nicht mehr umherziehen und mir Leute suchen, die ich ausnehmen kann. Nein, die Leute kommen zu mir ins Casino, um zu gewinnen, und die meisten werden doch verlieren. Ich kenne alle Tricks, das wird eine wahnsinnige Sache … Und erst die Frauen! Das Casino wird voll davon sein, denn wo Geld ist, da sind auch Frauen.“
„Ha, ha …“ Hawkings lässt sein hustendes Lachen hören. „Wie die Motten um das Licht. Guy, sind dir die drei Frauen aufgefallen, die mit uns reisen?“
„Du meinst diese Garner und ihre hübschen Freundinnen?“
Simon, der das bisherige Gespräch gar nicht so genau belauschen wollte, bekommt nun erst recht ein ungutes Gefühl und spitzt die Ohren.
„Ja, genau. Die sprechen davon, ein Gästehaus eröffnen zu wollen, aber ich glaube, da stimmt etwas nicht.“
„Was meinst du damit? Ich habe gehört, wie die Garner den Eltringhams erklärt hat, dass sie das Gästehaus von der East India Company gepachtet hat.“
„Guy, das sind Huren.“ Hawkings senkt seine Stimme ein wenig. „Schau dir an, wie sie geschminkt sind und wie sie sich bewegen. Da können sie die feinsten Kleider tragen, wie sie wollen, Huren erkenne ich sogar bei Nacht und Nebel.“ Hawkings macht im Dunkeln irgendwelche Bewegungen, die Simon von seinem versteckten Posten aus nicht erkennen kann, aber der Ton in seiner Stimme gefällt Simon nicht. „Diese Helen Ward ist nicht ohne – diese grazile Figur, die makellose Haut und diese rehbraunen Augen …“
„Lass es gut sein, Cliff“, brummt Guy Paine. „An die kommst du nicht ran.“
„Wollen wir wetten? Man muss die Sache nur geschäftlich betrachten. Einen Augenblick, ich habe sie hier in der Westentasche … Ja, da ist sie.“
„Eine Taschenuhr?!“
„Genau, meine Taschenuhr, in die meine Initialen und mein Geburtsjahr 1778 eingraviert sind.“
„Und was willst du damit?“
„Denk nach! Wenn man die Uhr in ihrer Koje finden würde …“
Simon hält den Atem an.
„Du willst sie erpressen? Du willst sie als Diebin darstellen?“
„Sagen wir es doch einfach so“, Hawkings Stimme wird noch etwas verschlagener, „ich will die Sache ein wenig in meine Richtung lenken … Und schließlich hat sie ja auch was davon.“
„Bist du dir sicher, Cliff?“
„Lass uns wetten! Glücksspiel ist doch dein Ding. Ich bringe dir ein sehr persönliches Andenken von ihr und du gibst mir deinen Siegelring.“
„Meinen Siegelring? Hm, unter einer Bedingung: Wenn du es nicht schaffst, bekomme ich deine Taschenuhr.“
„Abgemacht, Guy, Hand drauf!“
Simon hört noch den Handschlag, dann knarzt es erneut und kurz darauf ist er mit dem Rauschen der Wellen und dem Knarren des Schiffsgebälks wieder alleine.
In der Nacht in seiner Koje geht ihm das Gespräch der beiden Halunken nicht aus dem Kopf. Soll er einschreiten oder sich heraushalten? Würde Helen Ward seine Hilfe überhaupt in Anspruch nehmen wollen? Schließlich ist sie eine erwachsene Frau. Wie würde es um ihre Glaubwürdigkeit stehen, wenn zwei gestandene Männer, zugegebenermaßen offenbar echte Schurken und Schlitzohren, etwas behaupten? Hätte sie die Chance, die Allgemeinheit von sich zu überzeugen? Und wie stünde es um ihre Integrität, wenn sie vielleicht doch als Hure gearbeitet hat? Als die Sonne aufgeht, hat Simon eine Entscheidung getroffen.

Beim Frühstück in der Messe ist es ein bisschen eng, sodass die Eltringhams gegenüber von Simon und Raj zu sitzen kommen. Während sich Major Eltringham in Bezug auf Raj zunächst ein wenig reserviert zeigt, hat seine Gattin Florence keinerlei Berührungsängste. Sie eröffnet das Gespräch mit freundlicher Offenheit und vielen Fragen zum Werdegang der beiden Männer, wobei sie sich besonders für Simon und sein Leben in dem ihr unbekannten Amerika interessiert. Simon wiederum erfährt, dass Major Robert George Eltringham aus Oxford stammt und jetzt seinen Dienst in der 2. Kompanie des 2. Bataillons der East India Company in Surat verrichtet. Seine Frau Florence wurde in Westminster geboren und besuchte die Schule der Höheren Töchter in Bath, wo sich die beiden vor zwei Jahren kennen gelernt und am 27. Juli des letzten Jahres auch geheiratet haben.
Während des Frühstücks und der angeregten Unterhaltung mit den Eltringhams beobachtet Simon Cliff Hawkings, der am anderen Ende der Messe zusammen mit Guy Paine sowie den Herren Morris und Clarkson frühstückt. Auch nach dem Frühstück, an Deck, behält er Hawkings im Auge. Unauffällig stellt er sich neben Jussuf Qasim, der seine Hand als Sonnenschutz über seine Augen gelegt hat und das vorbeiziehende Ufer beobachtet.
„Hallo, Mr. Qasim, gibt es etwas Besonderes zu sehen?“
„Nein, Mr. Brown, ich will mich nur orientieren. Sie können mich übrigens einfach Qasim nennen.“
„Gerne, ich bin Simon.“
„Wir passieren gerade Lötzing – manche Leute nennen die Insel auch Lussino, wie mir einer der Offiziere erklärte.“
Simon folgt dem Blick des jungen Mannes und nickt. „Ist Qasim dein Vorname oder dein Nachname?“
Der junge Mann grinst. „Der Nachname, aber alle nennen mich Qasim … Ich weiß, wer gemeint ist.“
Simon muss auch schmunzeln. „Darf ich dich fragen, wie lange du schon für Waghorn & Co. arbeitest?“
„Etwas über zwei Jahre.“
„Erstaunlich“, meint Simon. „Du wirkst noch recht jung auf mich, wenn ich das so sagen darf.“
„Ich bin einundzwanzig Jahre alt und stamme eigentlich aus Ägypten.“
„Wie bist du zu Waghorn & Co. gekommen?“
„Meine Mutter Kiki kam 1824 in den Haushalt des britischen Ägyptologen James Burton, der seit 1822 auf Einladung Muhammad Ali Paschas in Ägypten weilte. Mr. Burton war stets freundlich zu mir und gestattete es meiner Mutter, dass ich im Haushalt mitlaufen durfte. Ich erlernte die englische Sprache und nebenbei auch eine ganze Menge über britische Verhaltensweisen und den Lebensstil.“
„James Burton“, murmelt Simon beeindruckt. „Hast du auch eine dieser riesigen Pyramiden gesehen?“
„Nicht nur eine … Über Mr. Burton bin ich übrigens auch auf Lieutenant Waghorn gekommen. Er war mehrere Male in Gizeh bei Mr. Burton zu Gast, wenn er in der Gegend war. Ich kann mich daran nicht erinnern, aber meine Mutter erzählte mir davon und kam auf die Idee, dass ich mich bei Lieutenant Waghorn bewerben sollte. Vor etwa zwei Jahren habe ich mich bei der Dependance in Kairo vorgestellt und ein paar Wochen später lernte ich Lieutenant Waghorn persönlich kennen. Er konnte sich sogar noch an den kleinen Jungen beim britischen Ägyptologen erinnern und … Hier bin ich.“
„Unübersehbar“, bemerkt Simon anerkennend.

Der Tag auf See plätschert ereignislos vor sich hin; die meisten Passagiere verbringen ihn an Deck, um die Sonne und die frische Luft zu genießen. Man unterhält sich und genießt die eine oder andere Tasse Tee, wobei Simon immer wieder ein Auge auf den Briten Cliff Hawkings hat. Zwischendurch nutzt er auch die Zeit, sich weiter mit den verschiedenen Räumlichkeiten unter Deck vertraut zu machen. Als sich die Passagiere gegen Abend in die Messe begeben, nimmt Simon wahr, wie Hawkings sich möglichst unauffällig in Richtung des mittleren Niedergangs absetzt und ihn zügig hinuntersteigt. Vorsichtig folgt ihm Simon, um von dem Engländer nicht entdeckt zu werden. Lautlos schleicht er die Treppe hinunter und folgt dem schmalen Gang unter Deck. Die Tür zur Kabine der drei Damen steht offen. Als Simon sich behutsam nähert, kann er erkennen, wie der Brite sich an den Habseligkeiten der Damen zu schaffen macht. Was tut er dort nur? Simon muss aufpassen, nicht entdeckt zu werden, aber jetzt kann er erkennen, dass Hawkings am Kopfende einer Koje hantiert. Als er sich wieder umwendet, verschwindet Simon schnell in einer der angrenzenden Kabinen. Mit angehaltenem Atem lauscht er den Schritten, die sich durch den Gang entfernen, und Hawkings schnaubendem Atem, während er die Treppe emporsteigt. Als Simon sicher ist, dass der andere verschwunden ist, betritt er die Kabine der Damen, greift unter Helen Wards Matratze und ertastet dort tatsächlich die Taschenuhr. Nur Sekunden später zieht er die Tür hinter sich zu und macht sich auf den Weg in die Messe. Auf der Treppe kommt ihm unerwartet Mary Garner entgegen. Galant reicht Simon ihr mit einem Lächeln die Hand. „Mrs. Garner, ist das Abendessen nichts für Sie?“
„Oh, Mr. Brown, wie freundlich von Ihnen. Nein, nein, ich habe nur etwas vergessen, ich bin gleich zurück.“
An Deck atmet Simon ein paarmal tief durch und ehe er sich‘s versieht, steht Mary Garner auch schon wieder neben ihm.
„Sie haben auf mich gewartet …“, stellt sie erfreut fest. „Wie ich bereits bemerkte, Sie sind ein wahrer Gentleman.“
Simon reicht ihr seinen Arm. „Darf ich Sie zum Abendessen begleiten?“
„Ich bitte darum.“
Beim Abendessen stecken Cliff Hawkings und Guy Paine geheimnisvoll ihre Köpfe zusammen und flüstern miteinander. Niemand außer Simon kann erahnen, warum Cliff Hawkings plötzlich, während das Dessert gereicht wird, aufspringt und aus der Messe stürmt, und niemand der anderen Gäste kann sich einen Reim darauf machen, warum kurz darauf Kapitän Rasmussen sowie der Erste und der Zweite Offizier neben Cliff Hawkings in der Messe erscheinen und Helen Ward darum bitten, sie zu begleiten.
Überrascht schaut diese in die Runde, erhebt sich dann von ihrem Stuhl und folgt den Offizieren vor die Tür. Nach kurzem Zögern steht auch Mary Garner auf und begibt sich zu der Gruppe. Draußen im Gang redet der Kapitän auf Helen Ward ein, aus deren Gesicht jedwede Farbe weicht. Als die Gruppe sich entfernt hat, fangen alle anderen Gäste in der Messe an, wild durcheinander zu reden. Simon nutzt die Gunst der Stunde, um unbemerkt die Messe zu verlassen und sich zum vorderen Niedergang am Bug des Schiffes zu bewegen, wo sich einige Lagerräume befinden. Er steigt die Treppenstufen hinunter und geht zu einer der Boxen, in der Schweine einer besonderen Rasse für einen Bauern auf Kreta untergebracht sind. Dort schiebt er in einer der Ecken Hawking's Uhr unter das Stroh, in der Hoffnung, dass sie bald gefunden wird. Anschließend kehrt er zufrieden in die Messe zurück und genießt sein Dessert. Auch die anderen Gäste haben sich wieder beruhigt, und als Mary Garner und Helen Ward sich wortlos wieder zu ihnen gesellen, wird es nur für einen kurzen Augenblick etwas lauter.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, erkundigt sich George Eltringham bei den Damen.
Helen Ward, deren Augen verdächtig rot und verweint aussehen, ringt kurz nach Worten, schüttelt dann aber hilflos den Kopf, also übernimmt Mary Garner die Antwort: „Es ist unglaublich: Mr. Hawkings hat meiner Freundin Helen hier vorgeworfen, seine Uhr gestohlen zu haben, eine besondere Uhr, die auf der Rückseite seine Initialen tragen würde. Der Kapitän und die Herren Offiziere haben Helens persönliche Sachen in der Kabine kontrolliert. Wie unangenehm! Und natürlich, wie sollte es auch anders sein, wurde die Uhr nicht gefunden, obwohl Mr. Hawkings bei der Überprüfung von Helens Koje sogar selbst Hand anlegte. Er zog sogar ihre Matratze aus der Koje heraus und geriet völlig außer sich. Ich bin heilfroh, dass wir mit Hawkings nicht alleine waren.“
Fassungslos fragt Ruby Patel: „Wie kam er denn überhaupt auf die Idee, dass du seine Uhr gestohlen haben könntest?“
Mit erstickter Stimme erwidert Helen: „Ich habe keine Ahnung!“
Tröstend legt Mary Garner ihrer Freundin eine Hand auf den Arm. „Beruhige dich; die Uhr wird sich schon wiederfinden.“

Gegen Abend des zweiten Tages auf See läuft die „Potere di Seduzione“ in den Hafen von Split ein, wobei die Passagiere die malerische Kulisse mit der beleuchteten Stadt bewundern. Am Vormittag des nächsten Tages sind die Matrosen damit beschäftigt, leere Fässer und Transportkisten von Bord zu schaffen sowie Vorräte an Bord zu nehmen und zu verstauen. Da hier im Hafen noch etwas Zeit ist, beschließt Simon, an Land zu gehen. Am Anleger hält er sich rechts und schlendert an der Südmauer des ehemaligen Diokletianspalastes entlang, in die Wohnungen, ja ganze Häuser integriert wurden. Fasziniert durchquert er einen dunklen Gang und gelangt in eine kleine Gasse, die zur Kathedrale führt. Den majestätischen Glockenturm konnte er schon vom Schiff aus bestaunen. Hinter dem Gotteshaus schließt sich ein beeindruckender Säulenhof an, der sicherlich dem ehemaligen römischen Palast zuzuschreiben ist. Simon lässt sich weiter durch die teils ausgesprochen schmalen Gassen treiben, die von kleinen Häusern gesäumt werden. Hier finden sich Händler, die die unterschiedlichsten Waren anbieten, genauso wie Handwerker, die ihr Tagewerk verrichten. Es wimmelt von Menschen: Die einen versuchen, die Vorzüge ihrer Waren herauszustellen, um möglichst hohe Preise zu erzielen, die anderen handeln mehr oder weniger geschickt, um möglichst wenig zu bezahlen.
Als Simon am Ende einer Gasse das Wasser im Hafenbecken erkennen kann, bleibt er vor der Auslage eines Sattlers stehen, weil ihm ein brauner Ledergürtel ins Auge sticht. Einen Moment lang denkt er darüber nach, sich den Gürtel näher anzusehen, aber dann verwirft er den Gedanken und will sich gerade abwenden, als ihn eine fröhliche Stimme begrüßt: „Mr. Brown, das ist ja ein Zufall!“ Es ist Mary Garner. „Da hatten wir beide wohl den gleichen Gedanken.“
„Ja, es tut gut, sich nach den Tagen auf See die Beine zu vertreten.“
„Begleiten Sie mich zurück an Bord?“ Die Britin weist in Richtung Hafen.
„Gerne“, nickt Simon. „Wie wäre es mit einem Türkischen Kaffee? Eine Spezialität, die man unbedingt einmal probiert haben sollte. Da ist ein kleines Kaffeehaus in der Nähe des Anlegers; das ist nicht einmal ein Umweg.“
„Das ist sehr charmant, Mr. Brown“, lächelt Mary Garner. „Sind Sie schon verheiratet?“
„Nein“, Simon muss lachen, „das bin ich nicht.“
„Die Frau wird zu beneiden sein.“ Mary Garner zögert kurz und blickt ihn dann eindringlich an. „Mr. Brown, zu dem Vorfall von gestern Abend: Meine Freundinnen würden niemals stehlen, das müssen Sie mir glauben. So leid mir Mr. Hawkings auch tut – vielleicht war die Uhr sogar ein Erbstück –, aber weder Helen noch Ruby würden sie an sich nehmen.“
„Ich glaube Ihnen, Mrs. Garner. Die Uhr taucht bestimmt wieder auf, nur Geduld.“
„Darf ich offen mit ihnen sprechen, Mr. Brown?“
„Nur heraus damit.“ Simon nickt.
„Warum war sich Mr. Hawkings so sicher, dass die Uhr ausgerechnet bei Helen zu finden wäre? Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker verfestigt sich bei mir der Gedanke, dass er oder ein Gehilfe sie bei ihr versteckt hat – aus welchem Grund auch immer. Glücklicherweise wurde ja nun bei Helens Habseligkeiten keine Uhr gefunden. Also muss jemand erahnt oder gesehen haben, wie Hawkings sie dort versteckt hat, und sie danach unbeobachtet an sich genommen haben.“
Simon zuckt unbestimmt mit den Achseln, worauf Mary Garner langsam hinzufügt: „Wenn dem so wäre, dann hätten wir, Helen, Ruby und ich, möglicherweise einen Freund an Bord.“
„Möglicherweise“, murmelt Simon.
Mary Garner nimmt ihn ernst in den Blick. „Irgendwie werde ich den Gedanken nicht los …“
„Sie sollten sich nicht so viele Gedanken machen, Mrs. Garner. Es wird sich schon alles aufklären.“

Das interessante Gespräch mit Josef Ressel in Triest beschäftigte mich noch längere Zeit. Seine Schiffschraube faszinierte mich. Scheinbar vermochte sie auf recht simple Art und Weise die Effizienz des Schiffsantriebs enorm zu steigern, und möglicherweise könnte sie bei gleichzeitiger Weiterentwicklung der Dampfmaschine den weltweiten Seetransport revolutionieren. Allerdings hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass Ressels Patent einige Jahrzehnte später in fast allen modernen Schiffen verbaut werden sollte.
Die Auseinandersetzung mit Flynn Corwin und seinem Kumpan Harold während meiner Überfahrt nach Amerika auf der „Whitecap“ ist mir auch nach all den Jahren noch in Erinnerung. Damals hatte ich mich vorschnell in ihren Streit mit Arthur Rutherfort hineinziehen lassen, ohne alle Möglichkeiten und Konsequenzen zu durchdenken. Schlussendlich brachte mich das auf die Krankenstation von Doktor Baker. Es ist wichtig, sich mit seinen Fehlern und Niederlagen auseinanderzusetzen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. In Bezug auf Helen Ward und die untergeschobene Uhr setzte ich daher nicht auf eine Konfrontation. Ich war mir sicher, dass Cliff Hawkings Helen Ward in Sachen Schlechtigkeit deutlich überlegen war und dass es ihr nicht gelingen würde, sich seiner zu entledigen. Aus diesem Grund musste ich mich einmischen, aber ich musste es so anstellen, dass weder ich noch eine andere Person verdächtigt werden könnte. Mir war sehr wohl bewusst, dass Helen Wards Glaubwürdigkeit wahrscheinlich zerstört würde, wenn bekannt würde, dass sie möglicherweise als Dirne arbeitete oder zumindest gearbeitet hatte. Glücklicherweise konnte ich den Verdacht des Uhrendiebstahls abwenden. Hat nicht jeder Mensch eine zweite Chance verdient?

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