6.3 Im Labyrinth der Politik

An zwei Tischen in der Gaststube wird schon gefrühstückt, als Simon am nächsten Morgen seine Spiegeleier mit Speck bestellt. Das erste Mal auf dieser Reise weiß er nicht, wer überhaupt zum Frühstück erscheinen wird: Dunja Juskowiak ist gleich nach ihrer Ankunft am gestrigen Abend mit Nicolina und Stas zu ihren Eltern gegangen, und Ivo Sobotka wurde unverzüglich zur Gendarmerie überstellt und dort in Gewahrsam genommen. Die beiden Beamten von der Geheimpolizei hatten ihm noch mitgeteilt, dass sie im Laufe des Vormittags zur Befragung vorbeikommen wollen.
„Guten Morgen, Herr Brown, darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Magdalena Paoli steht an seinem Tisch – heute viel dezenter gekleidet und deutlich weniger geschminkt als an jedem anderen Tag der Reise.
„Ja, selbstverständlich, Frau Paoli!“ Simon zeigt höflich auf einen der freien Stühle am Tisch.
Die Sängerin setzt sich und sieht sich fragend um. „Sind wir die beiden einzigen verbliebenen Reisenden auf der letzten Etappe?“
„Ich nehme an, dass auch Fürst Esterházy mit uns weiterreisen wird“, meint Simon.
Die Sängerin macht ein dramatisches Gesicht. „Eine mysteriöse Geschichte, auf die ich mir immer noch keinen Reim machen kann. Zuerst kamen die beiden Polizisten mit diesem Kurek in Handschellen aus dem Wald. Er musste mit einem Polizisten an der Seite außen auf der Kutsche mitfahren. Dann setzte sich Reiter – also Fürst Esterházy – zu uns in die Kutsche, wirkte völlig erschöpft und sprach kein Sterbenswörtchen. Zum Schluss kamen Sie und Paul, aber Sie setzten sich nicht zu uns, obwohl Ihr Platz außen doch schon besetzt war.“
„Ich habe das Pferd des zweiten Polizisten geritten“, erklärt Simon und schenkt sich Kaffee nach.
Magdalena Paoli nickt nachdenklich. „Ich habe kurz vor dem Zubettgehen noch ein paar Worte mit Paul Vogel gewechselt. Ich hatte den Eindruck, dass er sehr aufgewühlt und schockiert war. Er erklärte mir, dass Kurek eigentlich Sobotka heißt und Reiter Fürst Esterházy …“
„Vielleicht hat Sobotka ja in der Nacht ein Geständnis abgelegt, und wir erfahren heute Vormittag Genaueres. Ich hoffe, dass sich die Hintergründe zügig aufklären lassen und wir morgen oder übermorgen weiterfahren können.“
Die Paoli reißt die Augen auf. „Sie meinen, wir verlieren zwei ganze Tage?“
Bevor Simon antworten kann, tritt Fürst Esterházy an ihren Tisch. Er sieht etwas erholter aus als gestern Abend. „Guten Morgen, ist es genehm, wenn ich mich setze?“
„Ja, natürlich, eure Hoheit“, lächelt Magdalena Paoli verschmitzt. „Sie haben uns ja ganz schön etwas vorgespielt, Sie und Herr Kurek …“
„Das möchte ich nicht leugnen, Frau Paoli“, antwortet Esterházy mit gesenkter Stimme. „Ich muss Sie aber bitten, Stillschweigen zu bewahren – zumindest, bis die beiden Herren der Geheimpolizei uns mitgeteilt haben, wie es jetzt weitergehen soll.“
„Glauben Sie denn auch, dass wir hier die nächsten zwei Tage festsitzen?“
„Heute auf jeden Fall“, bestätigt der Fürst bedauernd.
Magdalena Paoli seufzt und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. „Was machen wir bloß den ganzen Tag?“
„Nun“, wirft Simon ein, „ich habe mir vorgenommen, am heutigen Nachmittag die Adelsberger Grotte zu besuchen, eine riesige Tropfsteinhöhle. Die Kutscher haben mir davon berichtet; sie soll sagenhaft sein.“
„Das hört sich interessant an“, meint die Sängerin, „würden Sie mich vielleicht mitnehmen, Herr Brown?“
„Sind Sie gut zu Fuß?“, will Simon wissen. „Es sollen etwa anderthalb Kilometer von hier bis zur Grotte sein. In der Höhle selbst legt man bestimmt auch noch den einen oder anderen Kilometer zurück.“
Magdalena Paoli schiebt ihr rechtes Bein neben den Tisch und zeigt auf den Wanderschuh, den sie trägt.
Simon muss schmunzeln. „Na, mit dem Schuhwerk können wir zusammen ganze Berge besteigen.“
„Sie nehmen mich also mit?“
„Ja, so auf jeden Fall.“

Etwa anderthalb Stunden nach dem Frühstück treffen die beiden Polizisten Franc Zorko und Mark Jabec im Posthof ein. Sie befragen zunächst Dunja Juskowiak, die mit ihrem Vater erschienen ist, in einem separaten Raum. Anschließend werden Magdalena Paoli und die Kutscher gebeten, ihre Aussagen zu tätigen, und schließlich ist Fürst Esterházy an der Reihe. Simon wartet während dieser Zeit unruhig in der Gaststube; die Zeitung dort ist irgendwann auch ausgelesen. Endlich taucht Jabec auf und bittet ihn, ihm zu folgen. Im Hinterzimmer befindet sich neben den beiden Polizisten Fürst Esterházy; er hält sich im Hintergrund, folgt dem Gespräch aber aufmerksam.
Franc Zorko nickt endlich abschließend. „Danke, Herr Brown, das wäre für den Moment alles. Eine Sache noch …“ Er wirft einen Blick zum Fürsten in der Ecke. „Fürst Esterházy möchte weiterhin unerkannt nach Triest reisen – unser Geleit lehnt er allerdings kategorisch ab.“
„Herr Zorko, verstehen Sie mich nicht falsch“, wirft Esterházy ein, „aber wenn mich zwei Geheimpolizisten nach Triest begleiten, werde ich nicht unerkannt bleiben können.“
Zorko runzelt die Stirn. „Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Also, Herr Brown, Seine Hoheit wünscht jedenfalls, dass Sie ihn begleiten. Sie würden nicht auffallen und hätten deutlich bewiesen, dass Sie ihn beschützen könnten.“
Simon bleibt die Luft weg. „Nicht so schnell, meine Herren! Ich bin doch nicht für den Schutz eines Fürsten zuständig. Ich meine, was wäre denn, wenn ich nicht verhindern könnte, dass er verletzt wird oder Schlimmeres?“
„Könnten wir etwas Schriftliches formulieren, das wir Herrn Brown an die Hand geben können?“, fragt Mark Jabec seinen Kollegen.
„Nein, das wird schwierig“, brummt Zorko. „Ich kenne keine Vorschrift, die … Ach was! Hoheit, Sie sollten einfach mit uns nach Triest reisen …“
„Unter keinen Umständen fahre ich mit Ihnen nach Triest! Keiner von Ihnen kann sich auch nur im Entferntesten vorstellen, um was es hier geht!“, fährt Esterházy gereizt auf.
Simon hebt beschwichtigend die Hand. „Lassen Sie mich bitte einen Moment nachdenken … Hoheit, wir wollen beide immer noch nach Triest, und ich denke, wir werden in derselben Kutsche reisen.“ Er sieht dem Fürsten fest in die Augen. „Sollte während unserer Reise etwas Unvorhergesehenes geschehen, dann werden wir darauf reagieren, und ich kann Ihnen versichern: Ich werde mich nicht wegducken.“
Esterházy erwidert Simons festen Blick. „Gut, die Herren, lassen wir es dabei. Das reicht mir.“
„Nicht so schnell“, wendet Simon ein. „Erstens möchte ich nicht, dass von dieser Abmachung etwas ins Protokoll aufgenommen wird. Zweitens möchte ich wissen, worum es hier überhaupt genau geht, und drittens möchte ich“, dabei schaut Simon die beiden Polizisten an, „einen Ort in Triest genannt bekommen, an dem wir uns im Notfall unerkannt treffen könnten.“
Bevor Mark Jabec etwas einwenden kann, ergreift der Fürst das Wort: „Nun gut, Herr Brown, Sie sollen eingeweiht werden. Ich bin Paul III. Anton Esterházy, geboren in Ungarn, von Beruf Staatsmann und im diplomatischen Dienst tätig. 1806 ging ich als Botschaftssekretär nach London und seit 1815 vertrete ich dort als Botschafter Kaiser Franz. Ivo Dragan Sobotka, den Sie als Miroslav Kurek kennengelernt haben, ist Staatssekretär des Herzogtums Krain. Ich habe Sobotka vor einigen Jahren bei einem Bankett in der Wiener Hofburg kennengelernt und hielt ihn für die geeignete Person für unsere Mission – Kaiser Franz übrigens auch. Und dann so etwas! Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass Sobotka uns hintergeht.“ Der Fürst atmet tief durch und nimmt die beiden Geheimpolizisten in den Blick. „Meine Herren, darf ich Sie bitten, mich nun mit Herrn Brown alleine zu lassen?“
„Aber Hoheit …“
„Ich werde Herrn Brown mein Leben anvertrauen – inoffiziell natürlich. Da benötigt er noch einige zusätzliche Informationen, die für Sie aber nicht von Interesse sein dürften.“
Widerwillig verlassen Zorko und Jabec den Raum, woraufhin sich der Fürst erneut an Simon wendet: „Darf ich Sie zunächst fragen, wie lange Sie gedenken in Triest zu verweilen?“
„Warum das?“
„Weil ich voraussichtlich auch in Triest Ihre Begleitung in Anspruch nehmen möchte.“
„Nun.“ Simon zögert. Seine eigenen Pläne dürfen in diesem Spiel nicht aus dem Blick geraten. „Am 25. Februar verlasse ich zusammen mit dem Engländer Thomas Waghorn oder einem seiner Mitarbeiter Triest mit dem Ziel Alexandria. Von da aus geht es durch die Wüste und über das Rote Meer bis nach Bombay, wo ich hoffentlich auf mein Schiff treffen werde.“
„Das klingt gut“, nickt Esterházy. „Ihre Idee mit dem geheimen Treffpunkt finde ich großartig. Sie müssen wissen, Herr Brown, in unserem Habsburgerreich, dem Kaisertum Österreich, lebt eine sehr vielschichtige Bevölkerung unter der Regentschaft von Kaiser Franz. Menschen aus Österreich, Böhmen, Ungarn, Krain und anderen Teilen des Reiches haben unterschiedliche Lebensumstände, Probleme und Wünsche, die zudem einer steten Veränderung unterliegen. Kommen wir jetzt zu einer Vereinigung, die sich in den letzten Jahren stärker herausgebildet hat, als wir es erwartet haben, der Illyrischen Bewegung. Diese Bewegung hat die panslawistische Idee für die Herzogtümer Krain, Kärnten und Steiermark übernommen, um die Einheit der Südslawen im Habsburgerreich zu erreichen. Von Interesse sind dabei für uns auch die Ansätze und Gedanken des jungen kroatischen Intellektuellen Ljudevit Gaj, der mit Sobotkas Frau Mila bekannt ist. Kaiser Franz hat mich beauftragt, mit der Illyrischen Bewegung in Kontakt zu treten, um in Erfahrung zu bringen und darüber zu verhandeln, was notwendig ist, um die slawischen Völker im Kaisertum Österreich besser zu integrieren, politische und gesellschaftliche Spannungen abzubauen sowie eine Abspaltung zu verhindern. Aus diesem Grund haben Sobotka und ich ein geheimes Treffen in Triest vereinbart, an dem neben uns zwei der illyrischen Anführer, Duško Katičić und Radoslav Belaj teilnehmen. Uns ist durchaus bekannt, dass es einige kleinere Gruppierungen gibt, die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Kaiser Franz setzt große Hoffnungen in dieses Treffen, sodass ich mich außerstande sehe, es zu verschieben, geschweige denn, es völlig abzusagen.“
Simon hat dem Fürsten gebannt zugehört. Diese politischen Ränke sind wirklich komplex und schwer nachzuvollziehen. „Danke für Ihre offenen Worte, Hoheit. Ich denke, auf dem Weg nach Triest werden wir das eine oder andere noch besprechen können. Zudem möchte ich Ihnen versichern, dass ich schweigen kann.“
Der Fürst nickt. „Morgen Nachmittag wollen Zorko und Jabec ihre Befragungen beendet haben. Bis dahin werden sie noch versuchen, mich umzustimmen.“ Er lächelt verschwörerisch. „Aber wenn Sie keine Einwände haben, machen wir es jetzt so wie besprochen. Sie werden keine besonderen Aufgaben haben, aber ich benötige einen verlässlichen Zeugen.“
Als Simon in die Gaststube zurückkehrt, wartet dort Magdalena Paoli auf ihn.
Er begrüßt sie mit einem Nicken. „Bereit für unseren kleinen Ausflug?“
„Ja, ich freue mich.“
„Dann lassen Sie uns gehen.“ Simon nimmt seine Jacke von der Garderobe und öffnet der Sängerin die Tür. „Wer hätte gedacht, dass wir heute so gutes Wetter bekommen – Sonnenschein und gefühlte fünf Grad Wärme.“
Magdalena Paoli lacht. „Das ist überhaupt nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit! In Triest an der Adria könnten es jetzt sogar bereits zehn Grad sein, und bis dorthin sind es nur ein paar Dutzend Kilometer.“
Auf dem sanft bergan steigenden Weg zur Adelsberger Grotte kommen sie dank des klaren Wetters gut voran. Simon ist erstaunt, wie leicht es ihm fällt, ein gutes Gespräch mit seiner Begleiterin zu führen und sich sogar über persönliche Dinge mit ihr auszutauschen, obwohl er sie bisher kaum kennengelernt hat. Magdalena Paoli erzählt ihm, dass sie im Juli 1804 in recht ärmlichen Verhältnissen in Linz geboren wurde und allein aufgrund ihrer begnadeten Stimme und ihres Ehrgeizes zu Erfolg, Geld und Ansehen gekommen sei. Zudem erzählt sie ganz unbekümmert von verschiedenen Liebschaften, ihrem zeitweilig ausschweifenden Leben und ihren anstrengenden Allüren als Star, mit denen sie den Menschen in ihrer Umgebung zum Teil sehr auf die Nerven gegangen sei. Nun sei eine Zeit für Veränderungen gekommen, und so käme für sie das Engagement am Teatro Grande genau zur richtigen Zeit.
Vor dem Eingang zur Grotte warten schon wenige andere Besucher und genießen die Sonnenstrahlen. Sie müssen sich noch etwa eine halbe Stunde gedulden, bis sie sich in Begleitung eines erfahrenen Führers gemeinsam auf das Abenteuer Tropfsteinhöhle einlassen können. Vor dem Betreten der Grotte reicht der Führer Simon und einigen anderen Besuchern jeweils eine Fackel. Er erläutert der Gruppe, dass die Adelsberger Grotte eines der größten Höhlensysteme Europas, wenn nicht sogar der ganzen Welt sei. Im Feuerschein begeben sie sich auf einen ausgetrampelten Pfad in das dunkle Höhlenlabyrinth, umgeben vom allgegenwärtigen Geräusch herabfallender Tropfen. Die flackernden Flammen der Fackeln werfen ein seltsam schummriges Licht auf die weißen, grauen oder sogar braunen Tropfsteingebilde, die von einem glänzenden Wasserfilm überzogen sind. In unterschiedlichen Formen und Größen wachsen sie als Stalagmiten aus dem Boden oder hängen als Stalaktiten von der Decke herab, die zu einem magischen Zauberreich zu gehören scheint. Des Öfteren verbinden sich die Tropfsteine sogar zu faszinierenden Säulen oder formen mächtige, bunt melierte Stufen, die an versteinerte Wasserfälle erinnern.
Der ohrenbetäubende Lärm von rauschendem Wasser dringt auf dem Weg zum sogenannten „Kalvarienberg“, einer besonders beeindruckenden Tropfsteinformation, an ihre Ohren. Nach gut zwei Kilometern steht die Gruppe vor einem dampfenden See, der, wie ihnen der Höhlenführer erklärt, vom nahe gelegenen Fluss Pivka gespeist wird. Simon ist von dem, was er zu sehen bekommt, so beeindruckt, dass er sich zunächst gar nicht wieder losreißen kann. Einige Tropfsteine muten wie Schlangen-, Drachen- oder Löwenköpfe an. Magdalena Paoli reißt ihn aus der Betrachtung, indem sie ihn am Jackenärmel zupft. „Herr Brown, wir dürfen den Anschluss an die Gruppe nicht verlieren!“ Tatsächlich – die anderen Besucher sind schon weitergegangen und der Schein der Fackeln entfernt sich. Als Simon und die Paoli sich zum Gehen wenden, tritt die Sängerin mit ihrem Fuß am Trampelpfad vorbei ins Leere und verliert mit einem kleinen Aufschrei ihr Gleichgewicht. Simon fasst sie geistesgegenwärtig um die Taille und zieht sie an sich, um ihr Halt zu geben. Die Sängerin ist ihm auf einmal ganz nah und sieht ihm tief in die Augen. Vorsichtig löst sich Simon von ihr und weist mit der Fackel in seiner Hand in die Richtung, in die sich die Gruppe entfernt.
Etwa anderthalb Stunden später haben sie den Eingang zur Höhle wieder erreicht. Magdalena Paoli hat in der ganzen Zeit mit keinem Wort ihre Annäherung in der Höhle erwähnt, aber auf dem Spaziergang zurück zum Posthof ergreift sie auf einmal Simons Hand. „Nach unserem kleinen Abenteuer können wir doch nun von der förmlichen Anrede absehen, finden Sie nicht, Herr Brown“, erklärt sie verschmitzt. „Ich bin die Magdalena.“
„Gerne“, nimmt Simon an, denn er mag diese unkonventionelle Frau. „Ich bin Simon.“
Die Sängerin bleibt stehen und eher er sich‘s versieht, drückt sie sich erneut an ihn und küsst ihn beherzt auf den Mund. „So, das haben wir jetzt fest besiegelt.“
„Eine interessante Art, etwas zu beschließen“, meint Simon überrumpelt.
„Ich muss dir etwas gestehen, Simon. Eigentlich bin ich ein großer Angsthase, und die Höhle hätte ich niemals betreten, wenn du nicht an meiner Seite gewesen wärst.“
„Dann bin ich froh, dich begleitet zu haben.“
„Was wäre mir entgangen, wenn ich die Höhle nicht gesehen hätte! Sie ist so schön und faszinierend – allerdings auch bedrohlich, erdrückend und dunkel. Wer weiß, was dort in der Dunkelheit lebt …“
Simon grinst und kann sich einen Scherz nicht verkneifen. „Bestimmt wohnen dort gefährliche Berggeister …“

Als sich die Kutsche am frühen Mittwochmorgen endlich wieder in Richtung Triest in Bewegung setzt, ist sowohl den Kutschern als auch den Insassen die Erleichterung anzumerken. Auch das Wetter hebt die Stimmung: Die Temperaturen haben einen weiteren kleinen Sprung nach oben gemacht, und es verspricht, wieder ein sonniger Tag zu werden. Simon sitzt nun zusammen mit Fürst Esterházy und Magdalena Paoli im Inneren der Kutsche. Der Fürst zeigt sich gut gelaunt und gesprächig. „Endlich ist es so weit: In ein paar Stunden sind wir in Triest.“
Simon nickt. „Ich bin auch froh, endlich wieder ans Wasser und bald auf ein Schiff zu kommen. Aber wie ist es dort eigentlich mit der Sprache? Werde ich in Triest mit Deutsch oder Englisch zurechtkommen?“
„Du wirst keine Probleme haben“, beruhigt ihn Magdalena. „Triest ist schon seit mehreren hundert Jahren habsburgisch, sodass du mit Deutsch keine Probleme haben wirst. Das teilte man mir jedenfalls vom Theater aus mit.“
„Sagen Sie, Frau Paoli, haben Sie schon eine Wohnung in Triest oder sind Sie auf ein Hotelzimmer angewiesen?“
„In meinem Engagement am Teatro Grande ist eine möblierte Wohnung inkludiert, und der Intendant teilte mir in seinem letzten Brief mit, dass diese bereits angemietet sei.“
„Dann wohnen Sie also mietfrei. Sehr zuvorkommend vom Teatro. Wissen Sie denn schon, wo genau sich die Wohnung befindet?“
„In der Via Milano 27, dritte Etage, ganz in der Nähe des Canal Grande.“
„Ausgezeichnet.“ Der Fürst nickt Simon mit zufriedener Miene zu. „Jetzt haben wir einen Ort, von dem niemand sonst Kenntnis hat und an dem wir uns im Notfall treffen können, Brown.“
Simon ist sich nicht ganz sicher, ob er die Idee so gut findet. „Aber nur im Notfall“, wendet er ein. „Wir sollten Frau Paoli nicht unnötig in Gefahr bringen.“
Die Sängerin räuspert sich betont. „Sollte meine Meinung auch gefragt sein, die Herren, dann wünsche ich mir, dass Sie mich außen vor lassen. Ich möchte meine Zeit in Triest ruhig und friedlich verleben.“
„Wahrscheinlich geht ja sowieso alles gut“, meint Esterházy beschwichtigend. „Niemand außer Sobotka weiß, dass ich nach Triest unterwegs bin, und der ist in Haft und auf dem direkten Weg nach Wien.“
Die Kutsche nimmt ihren Weg über Presswald nach Sesana, wo sie ein Schild mit dem Aufdruck „Gestüt Lipica“ passieren. Fürst Esterházy weist seine Mitreisenden darauf hin, dass es sich hierbei um das Stammgestüt der weißen Lippizaner handelt, einer der berühmtesten Pferderassen der Welt, die vor allem in der Spanischen Hofreitschule in Wien eingesetzt wird. In Optschina befindet sich die Grenzstation zum Triester Gebiet. Nach der Passkontrolle dürfen sie ihre Reise fortsetzen und schon bald eröffnet sich ihnen ein herrlicher Blick über den Golf von Triest. Malerisch liegt die Stadt zu ihren Füßen, majestätisch ankern die Schiffe mit ihren im Wind wehenden Wimpeln im Hafen.
Kaum anderthalb Stunden später halten sie vor der zentralen Poststation von Triest.
„Wo werden Sie absteigen, Herr Brown?“, wendet sich Fürst Esterházy an Simon.
„Ich weiß es noch nicht, Hoheit. Haben Sie einen Vorschlag?“
„Man hat mir ein Zimmer im Grand Hotel an der Piazza Grande gebucht … Es soll leicht zu finden sein – genau gegenüber der Mole Audace. Wollen Sie mich dorthin begleiten?“
Simon schüttelt den Kopf. „Ich denke, das Grand Hotel ist nichts für mich. Ich werde mir etwas Kleines suchen und Ihnen morgen eine Nachricht an der Rezeption hinterlassen.“
Ein kleiner Mann mit strubbeligem, schwarzem Haar kommt mit einem rustikalen Schubkarren in den Händen auf sie zu und bietet ihnen freundlich seine Hilfe zum Transport der Koffer an, die Fürst Esterházy dankend annimmt. Während der Fürst sich mit seinem Begleiter auf den Weg macht, wendet sich Simon Magdalena zu, die sich unsicher umschaut. „Via Milano 27“, wiederholt er ihre neue Adresse. „Soll ich dich dorthin begleiten?“
„Ein wahrer Gentleman!“ Magdalena schenkt Simon ein Lächeln, während der seinen Seesack schultert und einen ihrer beiden Koffer anhebt.
„Dann wollen wir mal.“
Nachdem sie unter anderem den Canal Grande umrundet haben, stehen sie in der Via Milano vor einem vierstöckigen Stadthaus.
„Geschafft!“, seufzt Magdalena erleichtert auf. „Nummer 27, dritte Etage.“ Während die Sängerin ihren Kopf in den Nacken legt, öffnet sich die Haustür und eine mollige Frau mittleren Alters mit hochgesteckten Haaren und in dunklem Kittel tritt heraus. „Guten Tag, sind Sie die Sängerin aus Wien, die vorgestern hier eintreffen sollte?“
„Ja, die bin ich. Gestatten, Magdalena Paoli. Wir hatten Probleme auf der Reise und dadurch gingen zwei Tage verloren.“
Die Frau in dem Kittel nickt kurz. „Wanja Horvat. Mein Mann Pavel ist hier der Hausmeister. Moment, ich hole Ihnen die Schlüssel.“
Kurz darauf folgt Simon Magdalena die Treppen hinauf. Ungeduldig dreht sie den Schlüssel im Schloss, drängt sich durch die Tür und rauscht wie ein Wirbelwind durch die Wohnung. „Neue Stadt, neue Wohnung, neues Engagement … Ach, ich freue mich auf mein neues Leben!“
Simon muss über die exzentrische Frau lächeln. „Das solltest du auch, Magdalena. Du bist in Triest angekommen, und deine Wohnung ist großzügig und sehr geschmackvoll eingerichtet. Alles andere wird sich finden. Ich möchte mich jetzt von dir verabschieden … Aber wir sehen uns in den nächsten Tagen sicher noch einmal wieder.“
Auf dem Weg nach unten trifft Simon im Hausflur auf Frau Horvat, von der er eine Pension ganz in der Nähe empfohlen bekommt.

In den nächsten Tagen streift Simon durch die großen und kleinen Straßen von Triest, über die öffentlichen Plätze und durch den Hafen. Der Hafen und die Stadt sind durch zahlreiche Batterien und eine Zitadelle gegen feindliche Schiffe geschützt. Natürlich interessiert Simon das Hafengebiet besonders, denn von hier aus wird er seine Weiterreise Richtung Indien fortsetzen. Robin Frost von Waghorn & Co. hatte ihm bei ihrem letzten Treffen mitgeteilt, dass er sich einen Tag vor der Abreise beim Hafenmeister nach ihm erkundigen sollte. Bis dahin ist noch Zeit.
Endlich erhält Simon eine Nachricht von Fürst Esterházy, der ihn zu einem Treffen in einem Kaffeehaus in der Nähe des Grand Hotels bittet. Das Kaffeehaus hat eine wunderschöne Außenterrasse, aber Simon ist sich sicher, dass er den Fürsten eher in einer dunklen Ecke im hinteren Teil der Räumlichkeiten antreffen wird. Im Innern fällt ihm zunächst die hohe weiße Decke auf, die kunstvoll mit Stuck verziert ist. Der Thekenbereich und das Rückbüfett sind in nahezu schwarzem Holz gehalten, das einen starken Kontrast zu der hellen Decke bildet. Die Auslage ist mit verführerisch aussehenden Leckereien gefüllt und aromatischer Kaffeeduft liegt in der Luft. Simon geht an gut besuchten Tischen vorbei und gelangt schließlich in einen ruhigeren Bereich, der mit Teppichen ausgelegt ist und mit niedrigeren Tischen und Sitzgelegenheiten deutlich mehr Gemütlichkeit ausstrahlt. Hier findet er Fürst Esterházy, der sich kurz aus seinem Sessel erhebt. „Guten Tag, Herr Brown. Schön, Sie zu sehen. Geht es Ihnen gut, und verbringen Sie ein paar schöne Tage in der Stadt?“
„Danke.“ Simon setzt sich und sieht den Fürsten aufmerksam an. „Es läuft alles gut.“
Esterházy nickt und winkt einem Ober zu. Als dieser mit Simons Bestellung verschwunden ist, erklärt der Fürst: „Ich treffe mich morgen um 14 Uhr mit den Herren Katičić und Belaj in der Kirche Sant’Antonio Taumaturgo. Sie finden sie …“
„Ich weiß“, unterbricht Simon mit einem Lächeln. „Ich habe sie mir schon von innen angesehen; sie steht am Ende des Canal Grande.“
„Gut. Wenn Sie die Kirche durch den Haupteingang betreten, finden Sie links und rechts vor dem Altar jeweils eine Tür. Sie nehmen die linke; dort gibt es einen Raum, in dem die Besprechung stattfinden soll. Wir sollten uns vor der Kirche treffen.“
„Wer wird noch dabei sein?“
„Nur wir vier. Zorko und Jabec von der Geheimpolizei werden im Hintergrund bleiben. Sie haben mir versprochen, dass wir sie nicht einmal zu Gesicht bekommen werden.“
Der Ober bringt Simon seinen Kaffee und ein Glas Wasser. Simon nimmt einen Schluck von dem herrlich duftenden Espresso. „Was habe ich zu tun?“
„Wenn alles problemlos abläuft, nichts. Ich habe einen von der Regierung ausgearbeiteten und von Kaiser Franz unterstützten Vertragsentwurf, der weitreichende Freiheiten für die Illyrer, aber natürlich auch Pflichten umfasst. Sollten Katičić und Belaj den Entwurf oder zumindest große Teile davon anerkennen, wäre das ein wichtiger Erfolg für uns und auch für die Illyrische Bewegung. Werden wir uns nicht einig, würde ich Sie bitten, Protokoll über Alternativvorschläge oder getroffene Vereinbarungen zu führen. Sie sind zwar nicht mein Privatsekretär, aber im Anbetracht der Umstände sehe ich keine Alternative und hoffe, Sie tun mir diesen Gefallen. Diese Vorschläge müssten anschließend der österreichischen Regierung zur Prüfung vorgelegt werden. Danach wird man sehen, ob es zu einem weiteren Treffen kommt.“
Simon seufzt und trinkt einen weiteren Schluck Espresso. „Und wenn etwas schiefläuft?“
„Was soll schieflaufen?“, entgegnet der Fürst zufrieden. „Alles ist durchgeplant.“
„Also, morgen um 14 Uhr.“ Simon sieht sich nach dem Ober um.
„Der Espresso geht auf mich“, erklärt der Fürst.
„Vielen Dank.“ Simon erhebt sich. „Ich denke, ich sollte jetzt gehen. Man sollte uns nicht zusammen sehen.“

Am nächsten Tag steht Simon schon einige Zeit vor dem vereinbarten Zeitpunkt am Canal Grande, die Kirche Sant’Antonio stets im Blick. Am Kanal herrscht reger Betrieb, es werden mehrere Schiffe be- und entladen. Im Gewimmel entdeckt Simon vier Männer, von denen zwei bewaffnet sind, die die Kirchentreppe hinaufsteigen und anschließend hinter einer der Säulen des Portals verweilen. Wenig später sieht er Fürst Esterházy kommen und gesellt sich unauffällig zu ihm.
„Guten Tag, Hoheit. Wundern Sie sich nicht – wie es aussieht, warten vier Männer auf uns, nicht nur zwei.“
Der Fürst bleibt stehen und sieht Simon erstaunt an. „Das war aber so nicht vereinbart …“
„Wahrscheinlich Vorsichtsmaßnahmen“, beruhigt ihn Simon. „Das wäre jedenfalls verständlich.“
Oben auf den Stufen vor dem Kirchenportal treten ihnen zwei Männer entgegen, der eine ist groß und trägt einen ungewöhnlich kunstvoll verzwirbelten und geflochtenen Bart, der andere ist klein und untersetzt und hat kaum Haare auf dem Kopf.
„Fürst Esterházy“, spricht sie der Bartträger an, „herzlich willkommen. Ich bin Duško Katičić und das ist mein Freund und Weggefährte Radoslav Belaj.“
Esterházy nickt. „Um wen handelt es sich bei ihrer Begleitung?“
„Die Männer sollen gewährleisten, dass wir in Ruhe verhandeln können. Und wen haben Sie bei sich?“ Der Bartträger, Duško Katičić, wirft Simon einen prüfenden Blick zu.
Esterházy stellt ihn vor: „Das ist mein Freund, Simon Brown, ein Amerikaner aus Boston. Ich hielt es für sinnvoll, einen unauffälligen Begleiter zu wählen, was man von ihren Männern ja nicht gerade sagen kann.“
„Lassen Sie uns keine Zeit verlieren, Hoheit. Haben Sie das Angebot ihrer Regierung dabei?“
„Natürlich“, nickt der Fürst.
„Dann sollten wir hineingehen“, bestimmt jetzt der Kleinere der beiden Unterhändler. „Ganz nebenbei bemerkt: Wir hatten schon befürchtet, dass Ivo Sobotka Sie begleiten würde.“
Der Fürst hebt die Augenbrauen, während sich die Gruppe in Richtung Kirchenportal in Bewegung setzt. „Warum haben Sie das befürchtet?“
„Er hat sich nachweislich vor einiger Zeit einer radikalen Gruppierung angeschlossen; sie sollten sich vor ihm hüten.“
Radoslav Belaj gibt seinen bewaffneten Begleitern ein Zeichen, sich vor der Kirche zu positionieren. Die Vierergruppe der Verhandlungspartner betritt das lange, breite Kirchenschiff, dessen Dach von zwei Reihen massiver Säulen getragen wird. In unzähligen Bankreihen sitzen vereinzelt Gläubige, die ins Gebet versunken sind. Im Altarraum geht Fürst Esterházy zielstrebig auf die linke der beiden Türen zu. Dahinter öffnet sich ein kahler, hoher Raum, an dessen gelb getünchten Wänden düster wirkende Gemälde hängen. In der hinteren Wand befinden sich zwei weitere Türen, während die Mitte des Raumes von einem Tisch und vier Stühlen besetzt ist. Simon schaudert in der kalten Atmosphäre.
„Setzen Sie sich, meine Herren“, bittet Fürst Esterházy. „Unsere Regierung hat sich erlaubt, einen Vertragsentwurf auszuarbeiten, der die Unterstützung von Kaiser Franz findet und ein erster Schritt zu einer Beziehung zwischen dem Kaisertum Österreich und der Illyrischen Bewegung sein könnte. Lassen Sie uns den Entwurf in Ruhe durchsprechen; wenn es etwas zu beanstanden gibt, wird es nachgearbeitet …“
Die Herren beugen sich über die Papiere, beginnen zu lesen und halblaut miteinander zu sprechen. Simon hört nur mit halbem Ohr hin, und so ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass er als Erster dumpfe Schlaggeräusche und gebrüllte Sprachfetzen aus der Kirche hört. Simon springt auf und öffnet die Tür ins Kirchenschiff einen Spaltbreit, um einen vorsichtigen Blick zu riskieren.
„Ihre Männer sind außer Gefecht. Wir haben es mit etwa zehn bewaffneten Angreifern zu tun. Sie stellen die ganze Kirche auf den Kopf. Wir müssen hier weg, sofort!“
„Sie und der Fürst müssen verschwinden“, bestimmt Katičić. „Ich denke nicht, dass die radikalen Illyrer uns etwas tun werden, auch wenn wir andere Ansichten haben.“
„Sollten wir uns nicht ergeben?“, fragt der Fürst nervös.
„Nein, auf keinen Fall“, meint Simon. „Wir müssen hier unerkannt weg, solange es noch geht. Ich denke nicht, dass diese Leute wissen, wer Sie sind und wie Sie aussehen, Hoheit.“
Er reißt die beiden Türen auf der anderen Seite des Raumes auf und, plötzlich steht eine jüngere Frau mit einem dicken braunen Zopf im rechten Türrahmen. Sie trägt Hosen und Stiefel wie ein Mann und über einer dunkelgrünen Jacke sogar ein Koppel mit Pistolenhalfter. „Fürst Esterházy“, stößt sie aus, „folgen Sie mir! Man will sie entführen und Lösegeld erpressen!“
„Wer sind Sie?“, stammelt der Fürst. „Woher soll ich wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann?“
„Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Folgen Sie mir, unverzüglich!“
„Sie hat Recht“, meint Simon. „Wir sollten jetzt sehen, dass wir hier wegkommen.“
Esterházy sieht die beiden Unterhändler entsetzt an. „Belaj, ich treffe Sie übermorgen um 12 Uhr in der Via Milano …“
„Stopp!“, wirft Simon dazwischen, bevor der Fürst die Adresse der Paoli ausplaudern kann. „Auf der Mole Audace. Ich werde Sie erwarten.“
„Los, los! Wir haben keine Zeit mehr“, ruft die Braunhaarige und rennt schon in den dunklen Gang hinein. Simon und der Fürst stürzen hinterher und finden sich alsbald im Freien hinter der Kirche wieder. Fremde Menschen drängen sich auf dem Kopfsteinpflaster und beachten sie kaum.
„Wir müssen weiter, bis wir in Sicherheit sind“, erklärt die Frau. „Kommen Sie, hier entlang.“
Etwa eine halbe Stunde rennen sie durch Straßen, Hinterhöfe und Keller, bis sie die bebaute Stadt hinter sich gelassen haben. Die junge Frau führt sie in ein Wäldchen bis zu einer Lichtung, an dessen Rand ein Lagerfeuer brennt. Zielgerichtet steuert die Unbekannte darauf zu und hockt sich neben einen älteren Mann mit krausem Haar, der vor einem Kessel über dem offenen Feuer sitzt. Die Frau spricht mit ihm in einer Sprache, die Simon nicht versteht, und der Mann nimmt einige Blechbecher aus einem Holzeimer hinter sich, füllt sie nacheinander mit Kaffee aus seinem Kessel und reicht sie den Gästen mit einem offenen Lächeln.
„Das war knapp“, seufzt die Unbekannte, die Simon schon die ganze Zeit über verstohlen gemustert hat. Sie hat eher feine Gesichtszüge, ihre Haut wirkt zart und gepflegt, genau wie ihre Finger, die sie jetzt um den Kaffeebecher schließt. „Mein Name ist Mila Sobotka.“
„Sobotka?!“ Fürst Esterházy schluckt sichtlich und starrt die Frau ungläubig an. Auch Simon gefällt nicht, was er hört. Handelt es sich etwa um die Frau des verhinderten Attentäters? Aber was hat das zu bedeuten?
„Geborene Tomić“, ergänzt die Frau. „Ich stamme aus Kroatien und bin in Zagreb aufgewachsen.“
Der Fürst nimmt vorsichtig einen Schluck von dem heißen Kaffee. „Sie sprachen von einer Entführung, Frau Sobotka?“
„Das ist Andrej“, erwidert diese, ohne die Frage zu beantworten. „Er ist auch ein Anhänger der Illyrischen Bewegung und heißt sie wie Freunde willkommen.“ Andrej hebt zum Gruß seinen Kaffeebecher, bevor Mila fortsetzt: „Wir haben über einen unserer Kontaktmänner herausgefunden, dass das für heute geplante Treffen mit Ihnen verhindert werden und Sie als Geisel genommen werden sollten, um Lösegeld zu erpressen. Davon wollte die radikale Gruppierung Waffen besorgen, um den Kampf für ein unabhängiges Königreich Illyrien zu schüren.“
„Und warum helfen Sie uns, Frau Sobotka?“
„Weil ich Gewalt ablehne, genau wie Katičić und Belaj auch … Überhaupt wünscht sich die große Mehrheit unserer Anhänger eine diplomatische Lösung im Kaisertum Österreich.“
„Ihr Gatte ist da aber offensichtlich anderer Meinung.“ Fürst Esterházy klingt zwar erleichtert, scheint aber dennoch weiterhin Zweifel zu haben.
Mila atmet tief durch und schiebt sich eine gelöste Strähne aus dem Gesicht. „Mein Mann hat sich vor einigen Monaten einer radikalen Gruppierung innerhalb unserer Bewegung angeschlossen. Politisch haben wir zurzeit nur noch sehr wenig gemeinsam … Ich habe ihn seit über einem Monat nicht mehr gesehen – er ist Staatssekretär und hält sich überwiegend in Wien auf.“ Ihre Stimme klingt wütend und enttäuscht und ihre Augen glänzen verdächtig.
„Frau Sobotka“, fragt Simon, auch, um sie abzulenken, „wer weiß denn alles davon, dass Fürst Esterházy die Verhandlungen leitet?“
„Meines Erachtens niemand außer Katičić, Belaj und mir. Aber vor einigen Tagen erfuhren wir durch einen anderen unserer Kontakte, dass der Verhandlungsführer inkognito nach Triest reise und man versuchen würde, ihn daran zu hindern, überhaupt anzukommen. Aus diesem Grund haben wir Katičić und Belaj hierher begleitet. Zwei unserer Leute sind Sie in der Kirche bereits begegnet, die anderen hatten sich um die Kirche herum postiert. Für den Fall eines Überfalls hatten wir vereinbart, dass ich mir durch eine Art Kellertür hinter der Kirche Zugang zu dem Raum verschaffe, in dem das Treffen stattfinden sollte. Gott sei Dank ist alles gut gegangen und niemand hat Sie, Hoheit, gesehen. Dennoch rate ich Ihnen, möglichst schnell einen neuen Termin anzuberaumen, damit nicht noch mehr schlafende Hunde geweckt werden.“
„Nun, wir werden sehen, was sich machen lässt“, nickt Esterházy. „Für Ihren Einsatz möchte ich mich bedanken. Wann, glauben Sie, kann ich wieder in mein Hotel zurück?“
Mila Sobotka zuckt mit den Achseln. „Jetzt, wenn Sie wollen. Ich denke nicht, dass wir noch verfolgt werden.“
Fragend sieht der Fürst Simon an, der ihm zur Bestätigung zunickt. „Dann lassen Sie uns aufbrechen, Hoheit, ich sehe das genauso.“

Zwei Tage später begibt sich Simon mit einem unruhigen Kribbeln im Bauch zur Mole Audace. Lange muss er nicht warten, bis er von einem von Katičićs Männern angesprochen wird. Er bittet ihn darum, mit dem Fürsten zu einer schwarzen Kutsche zu gehen, die in einer Gasse neben dem Teatro Grande auf sie warte. Die Kutsche bringt ihn und Fürst Esterházy zu einem kleinen Weingut oberhalb von Triest. Duško Katičić und Radoslav Belaj erwarten die beiden schon, und dieses Mal wollen sie augenscheinlich nichts dem Zufall überlassen, denn sie haben zehn bewaffnete Männer dabei. Der Fürst und er werden freundlich begrüßt, und Katičić erkundigt sich zunächst danach, wie sie die abenteuerliche Flucht überstanden haben. Im Anschluss kommen beide Seiten im tiefen Weinkeller schnell zur Sache, da sie keine weitere Zeit verlieren wollen. Während Simon daneben sitzt und sich bemüht, wie von Esterházy gebeten, Protokoll zu führen, beraten die Männer stundenlang über den vorliegenden Vertragsentwurf. Zu Simons Verwunderung wird über eine große Anzahl der Vertragsinhalte rasch Einigkeit erzielt; in anderen Punkten findet man noch während des Treffens andere Formulierungen, und die verbliebenen Differenzen sollen in den nächsten Wochen auf einem Treffen direkt in Wien geklärt werden. So ist selbst Fürst Esterházy frohen Mutes, als sie am Abend nach Triest zurückkehren. Der Vertrag scheint auf dem besten Wege zu sein, ein Erfolg zu werden.

Die Fahrt von Wien nach Triest gehört zweifelsohne zu den interessantesten Reisen, die ich in meinem Leben unternommen habe. Fürst Esterházy kennenzulernen und ihn bei seiner Arbeit zu erleben, war für mich besonders eindrücklich. Er war ein wahrer Meister seiner Profession, bei der es ums Verhandeln, ums diplomatische Taktieren und das Finden von alternativen Lösungen geht. Dabei handelte er mit Ruhe, Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit und vermittelte so anderen das Gefühl, dass er als Staatsmann und Politiker in der Lage war, einfach jedes Problem zu lösen.
Eine ganz andere Reisebekanntschaft war die begnadete Sängerin Magdalena Paoli: auf der einen Seite der arrogante, egoistische, männerverzehrende Star, der gekonnt schauspielerte und Menschen in seiner Umgebung nervte, auf der anderen Seite die ungeschminkte, selbstbewusste Frau, die sich ihre Fehler selbstkritisch eingestand und daran arbeitete, ihrem Leben eine andere, bessere Richtung zu geben. Ich fand es schön, Magdalena kennengelernt zu haben, eine Frau, mit der ich tiefsinnige Gespräche führen konnte und die sich für die Meinungen anderer interessierte.

Bitte geben Sie die Zeichenfolge in das nachfolgende Textfeld ein

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.