6.2 Unschuldig im Wirbel der Ereignisse

Kurz vor Mitternacht treten Simon und Oskar vor die Tür von „Dommayer’s Casino“. Ein kalter Wind fegt ihnen um die Ohren und Simon knöpft schnell seine Jacke zu. Auch Oskar richtet seinen Kragen auf und stellt dabei fröhlich fest: „Ein aufregender Abend – gutes Essen, tolle Musik und bezaubernde Frauen … ein wahrer Genuss!“
Simon muss lachen. „Von der Seite kann man es natürlich auch betrachten.“
„Ist doch alles gut gegangen, mein Freund.“ Oskar klopft ihm vertraulich auf die Schulter. „Wo ist dein Problem? Oder ist dir einfach nur kalt?“
„Kalt? Ja, das auch. Aber im Ernst, Oskar, du hast da drin fast einen Feuersturm entfacht. Mir sollte es jetzt wohl eher heiß den Rücken herunterlaufen. Die Sache hätte böse enden können.“
„Hat sie aber nicht!“, erwidert Vollrath immer noch frohgemut. „Manchmal muss man eben etwas riskieren, wenn man was erleben will … Ein wenig Glück sollte man natürlich auch haben.“
„Lass es gut sein, Oskar“, meint Simon, der sich über die Unbekümmertheit seines Begleiters ärgert.
Wortlos gesellen sie sich zu den anderen Ballgästen, die auf den Hietzinger Gesellschaftswagen warten. Direkt neben Simon wirft sich eine Dame einem Herrn überschwänglich an den Hals und hinter Oskar steht ein weiteres Paar. Der Herr legt der Dame, die nur ein kurzes Jäckchen trägt, seinen Mantel um die Schultern … Als der Gesellschaftswagen vorfährt, bemerkt Simon aus dem Augenwinkel einen dunkel gekleideten Mann, der scheinbar gelangweilt etwas abseits an einer Mauer lehnt und an einer Zigarette zieht.
„Simon“, reißt Oskar ihn aus den Gedanken, „willst du hier übernachten?“
„Entschuldige.“
Simon setzt sich in Bewegung und nimmt im Wagen an einem Fenster Platz. Kurz bevor der Wagen anfährt, springt der dunkel gekleidete Mann noch auf. Er geht ganz bis zum Ende durch und setzt sich auf einen freien Platz auf der letzten Bank in der Ecke.
„Also, diese Marie-Ann ist wirklich eine fantastische Frau“, schwärmt Oskar im Flüsterton. „So attraktiv und dazu temperamentvoll. Zu schade … Ich hätte gerne mehr Zeit mit ihr verbracht.“
„Beruhige dich, Oskar. Du wirst die Baronin wahrscheinlich niemals wiedersehen.“
„Ich werde von ihr träumen, das kann ich dir versichern“, seufzt der Münchener, „und einen Feuersturm wird es deshalb auch nicht geben. Und morgen früh werde ich dann meinen Onkel Sepp aufsuchen und schauen, wie es ihm geht.“
„Guter Gedanke.“
Nach diesem Austausch sitzen die beiden Männer schweigend nebeneinander. Simon bemüht sich, unauffällig die anderen Personen im Wagen im Blick zu behalten. Ihm ist die Situation immer noch nicht geheuer und er hat das ungute Gefühl, man könnte ihn und Oskar verfolgen. Als der Gesellschaftswagen auf die Mariahilfer Hauptstraße abbiegt, flüstert er Oskar kurzentschlossen zu: „An der nächsten Haltestelle verlassen wir den Wagen. Keine Fragen stellen!“
Sein Begleiter schaut ihn verwundert an, aber bevor er etwas sagen kann, lässt sich zwei Bänke vor ihnen ein Mann vernehmen: „Könnten Sie uns bitte hier aussteigen lassen?“
Der Kutscher nickt und zieht schon die Zügel an, um den Wagen zum Stehen zu bringen. Auch Simon und Oskar verlassen zügig den Gesellschaftswagen. Als der wieder anfährt, wirft Simon einen prüfenden Blick auf die Umrisse der Passagiere im dunklen Wagen. „Alle da“, stellt er beruhigt fest.
„Warum sind wir hier ausgestiegen?“, will Oskar wissen.
„Wir könnten verfolgt werden.“ Simon entziffert ein Straßenschild und stellt fest, dass sie sich an der Zieglergasse befinden. „Los, wir sollten uns beeilen, komm schon.“
„Ich verstehe nicht“, stammelt Vollrath verwirrt. „Wieso sollten wir verfolgt werden?“
„Ich weiß es nicht“, erwidert Simon. „Im besten Fall laufen wir nur ein paar Meter mehr. Aber wenn wir doch beschattet werden, dann weiß Graf von Serecki im Nu, wo wir uns einquartiert haben, und könnte jemanden schicken …“
„Wieso sollte der nach uns suchen? Er hatte mich doch schon festgesetzt.“
„Ja, aber da haben wir uns zwischen vielen Menschen bewegt. Was hat er am Schluss noch zu dir gesagt? ‚Wir werden eine Lösung finden.‘“ Simon schüttelt unbehaglich den Kopf. „Ich möchte gerne verhindern, dass sich unsere Wege noch einmal kreuzen. Also, lass uns einfach vorsichtig sein.“
Er zieht seinen Begleiter in die Zieglergasse und bedeutet ihm mit einem Zeigefinger auf dem Mund, er möge still sein. Schweigend und geräuschlos laufen sie weiter, gelangen über die Laufergasse in die Andreasgasse und behalten dabei die Mariahilfer Hauptstraße weiter im Blick. Simon schenkt auch den Hauseingängen Aufmerksamkeit. Die Hauptstraße verfügt im Gegensatz zu den kleineren Gassen über eine neumodische Straßenbeleuchtung, was ihnen zum Vorteil gereichen könnte, da dort befindliche Personen viel besser zu sehen sind als sie selbst.
Mittlerweile befinden sie sich in der Mitte der Andreasgasse und passieren einen breiteren, im Dunklen liegenden Hauseingang. Plötzlich springt eine dunkle Gestalt vor ihnen auf das Trottoir. Oskar bleibt erschrocken stehen und rührt sich nicht, während Simon instinktiv in Abwehrstellung geht – keine Sekunde zu früh, denn blitzartig fährt etwas mit einem Stoß durch die Luft. Intuitiv springt Simon einen Schritt zurück und weicht mit seinem Oberkörper aus. Er erkennt jetzt, dass der Mann ihn tatsächlich mit einem Dolch angreift. Simon weicht weiter erfolgreich aus, aber ihm wird klar, dass er einen Gegenangriff starten muss, bevor der andere ihn trifft. Als die Klinge das nächste Mal auf ihn zukommt, packt er mit seiner linken Hand die vorschnellende Faust des Angreifers und zieht sie ruckartig vor seinem Körper nach rechts. Fast gleichzeitig schlägt er mit seiner rechten Handkante in die ausgestreckte Armbeuge des Mannes. Im Reflex knickt der Arm des Angreifers ein und die Klinge dringt mit der Wucht von Simons Körpergewicht in den Mantel des Angreifers. Dieser reißt mit einem Aufschrei die Augen auf und sackt langsam in sich zusammen. Simon fasst nach dem Dolch, zieht ihn wieder heraus und steckt ihn in seine Jackentasche. Erst jetzt hat er Zeit, Oskar anzusehen, der mit einer Hand vor dem Mund geschockt vor der Hauswand steht. „Hast du ihn umgebracht?“
„Nein“, befindet Simon. „Bleib ruhig, Oskar.“
Simon zieht den ächzenden Mann unter den Achseln hoch und schleift ihn tiefer in den Hauseingang hinein. Vorsichtig drückt er die Klinke der Haustür hinunter und stellt fest, dass sie nicht verschlossen ist. Ein kurzer Blick in den nur schwach beleuchteten Eingangsbereich zeigt ihm, dass sich am Ende des Flurs neben einer breiten Steintreppe eine rustikale Holztür befindet, die vermutlich hinab in den Keller führt. Hinter ihm schnauft Oskar: „Gott sei Dank, der ist nicht tot, der atmet noch.“
Simon hockt sich vor den Verletzten, schaut ihm direkt in die Augen und befiehlt: „Sie geben keinen Laut von sich! Verstanden?“
Dann zieht er den Verletzten wieder hoch, schleift ihn durch die Tür bis zum Ende des Flurs und lehnt ihn mit dem Rücken gegen die Kellertür. Er knöpft den Mantel des Mannes auf und eine blaue Uniformjacke kommt zum Vorschein, die sich an der Einstichstelle dunkel verfärbt hat. „Habe ich's mir doch gedacht!“, stößt Simon leise hervor.
„Was?“
„Dieser Kerl ist beim Militär, und wir müssen wohl nicht lange fragen, in welcher Einheit er dient und in welchem Auftrag er handelt.“
„Graf von Serecki?“
„So wird es sein. Jetzt wollen wir aber erst einmal schauen, wie es um seine Verletzung bestellt ist.“ Vorsichtig zieht Simon dem Mann den Mantel aus. Danach öffnet er nacheinander das Koppel, die Uniformjacke und das Hemd. Simon begutachtet die Stichwunde, aus der langsam Blut sickert.
„Mein Gott, der stirbt noch“, jammert Oskar ängstlich.
„Bleib ruhig und mach dich nützlich“, zischt Simon. „Stell dich an die Haustür und halte Ausschau, ob jemand kommt.“
Simon geht zu einem Fenster neben der Eingangstür, zieht so lautlos wie möglich eine Gardinenkordel auf und schneidet mit dem Dolch einen langen Streifen von dem hellen Gardinenstoff ab.
„Hast du ein sauberes Taschentuch?“
Oskar greift in seine Manteltasche und zieht ein gefaltetes, weißes Tuch heraus. Simon hockt sich wieder vor den Uniformierten und erklärt: „Ich werde Ihnen jetzt die Wunde verbinden, das könnte weh tun … In Ordnung?“
Der Mann nickt und stöhnt leise.
„Die Rippen haben die Klinge abgelenkt“, stellt Simon fest. „Es ist nur eine Fleischwunde, die blutet nicht stark.“ Er drückt vorsichtig Oskars Taschentuch auf die Wunde und fixiert es dann mit dem Stoffstreifen am Oberkörper. Danach schließt er provisorisch Hemd und Uniformjacke. Bevor er dem Verletzten auch seinen Mantel umlegt, durchsucht er dessen Taschen und findet wie erwartet die Ausweispapiere des Uniformierten.
„Simon, wir sollten jetzt wirklich gehen“, drängt Oskar ängstlich.
„Nun mal ruhig, ich suche Beweise … Wir haben hier Korporal Munkács, 5. Dragoner-Regiment …“
„Warum tun Sie das?“, fragt der Korporal.
Simon antwortet nicht, steckt ihm aber die Papiere wieder in die Manteltasche. Dann nimmt er die Gardinenkordel und verschnürt dem Mann damit Arme und Beine. „Ich denke, in ein paar Stunden wird man Sie hier finden.“
„Warum tun Sie das?“, wiederholt der Angreifer. „Sie hätten mich vor der Tür in der Kälte erfrieren und verbluten lassen können.“
„Das unterscheidet uns Korporal: Sie sind zum Töten hier, ich nicht. Ihren Dolch werde ich als kleines Souvenir behalten.“
Simon schneidet einen weiteren schmalen Streifen aus dem Rest des Gardinenstoffs und knebelt den Mann damit. „Das kann ich Ihnen nicht ersparen“, erklärt Simon, bevor er sich erhebt und Oskar ein Zeichen zum Gehen macht. An der Tür wirft er einen prüfenden Blick auf die Straße, wendet sich dann aber noch einmal um: „Korporal Munkács, viel Glück.“
Stumm machen sich Simon und Oskar Vollrath auf den Weg in ihre Pension. An Schlaf ist so ohne Weiteres noch nicht zu denken. Sie setzen sich in Simons Zimmer zusammen und beraten die Lage.
„Woran hast du gesehen, dass wir verfolgt werden?“, will Oskar von seinem Begleiter wissen.
Simon seufzt. „Die letzten Worte des Grafen haben mich die ganze Rückfahrt über beschäftigt. Ich dachte mir, dass er noch diese Nacht handeln musste, wenn er etwas unternehmen wollte. Er kann ja nicht wissen, ob du etwas weißt und wann du zu plaudern anfängst. Und dann stand da dieser Mann im dunklen Mantel an der Haltestelle, der hat mich gleich misstrauisch gemacht. Auf der Fahrt ist er meinen Blicken ausgewichen, schaute aber in Augenblicken, in denen er sich unbeobachtet fühlte, immer wieder zu uns herüber. Als wir dann den Wagen verließen, habe ich schon damit gerechnet, dass auch er ihn bei der nächsten Möglichkeit verlassen und uns irgendwo in der Dunkelheit auflauern würde. Ich wusste nicht, wo er warten würde, aber dass er warten würde, davon war ich überzeugt.“
„Du hattest das alles geplant?“, staunt Oskar ungläubig.
„Ich würde eher sagen, ich war vorbereitet.“
„Als er da aus dem Dunklen mit dem Dolch auf dich zustürzte, ist mir das Blut in den Adern gefroren. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen … Du hingegen hast keine Sekunde gezögert … Wo hast du bloß gelernt, so zu kämpfen, Simon? Alles ging so schnell …“
Jetzt muss Simon doch schmunzeln. „Ich war mehrere Wochen in der Einsamkeit des schottischen Hochlands mit einer Gruppe ehemaliger Soldaten unterwegs, die schon gegen Napoleon gekämpft haben und von denen ich einiges lernen durfte. Außerdem bin ich Seemann, und wie du dir denken kannst, herrscht auf dem Meer manchmal ein rauer Umgangston.“
Oskar schüttelt staunend den Kopf und fährt sich nachdenklich mit der Hand durchs Gesicht. Er wirkt immer noch furchtsam und eingeschüchtert. „Was machen wir denn jetzt? Was ist, wenn dieser Offizier seinen Auftraggebern verrät, wo wir wohnen?“
„Das kann er so schnell nicht; wir haben ihn ja im Hausflur fixiert und er konnte uns nicht weiter folgen. Er wird davon ausgehen, dass wir auf dem Heimweg waren, aber nicht wissen, wo genau wir abgestiegen sind. Wir müssen damit rechnen, dass der Graf weiter nach uns suchen lässt. Heute Nacht sollten wir hier sicher sein, und morgen wirst du dir eine andere Pension in einem anderen Stadtteil suchen. Ich werde mich ja sowieso auf den Weg nach Triest machen.“

Als Simon recht früh am nächsten Morgen vor der Poststation in der Nähe der Steingasse ankommt, steht dort bereits eine voll besetzte vierspännige Postkutsche, wobei der Kutscher noch auf etwas zu warten scheint. Simon grüßt ihn freundlich und betritt dann die Station, um eine Fahrkarte nach Triest zu lösen. Der Postbeamte macht ihn darauf aufmerksam, dass die Kutsche vor der Station gerade im Begriff ist, nach Triest aufzubrechen. Allerdings handele es sich nicht um einen Eilpostwagen, sondern um einen Transitwagen. Auf Simons fragenden Gesichtsausdruck hin erklärt ihm der Beamte, dass die Transitwagen im Gegensatz zu den Eilpostwagen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit denselben Postillionen bis zum Ziel durchfahren würden. Der nächste Eilpostwagen in Richtung Triest würde gegen Mittag abfahren, gleichwohl wäre der vor der Tür stehende Transitwagen bereits voll besetzt.
In der Zwischenzeit hat ein Kutscher die Station betreten und begonnen, auf der anderen Seite des Tresens Dokumente zu sortieren. Mit seinen leicht ergrauten Geheimratsecken und den faltigen, streng anmutenden Gesichtszügen schätzt Simon ihn auf etwa fünfzig Jahre. Dieser hat die letzten Sätze von Simons Gespräch mit dem Postbeamten mitbekommen und lächelt den jungen Mann jetzt freundlich an: „Wenn Sie es dringend haben, mein Herr, können wir Sie auf der Kutsche noch mitnehmen. Hinter mir und meinem Kollegen wären noch zwei Plätze mit einer warmen Decke frei. Aber wir haben nun einmal Winter, und da wird es recht kalt auf der Kutsche …“
„Danke sehr.“ Simon freut sich. Wind und Wetter ist er ja gewohnt. „Ich würde gerne annehmen.“
Schon folgt er dem Wink des Kutschers nach draußen, zieht seine schwarze Rollmütze aus seiner Jackentasche und stülpt sie sich über den Kopf. Der zweite Kutscher, ein jüngerer, drahtig wirkender Mann, wirft Simon eine Decke zu und der nimmt seinen Platz auf der hinteren Bank ein, während die beiden Kutscher seinen Seesack auf dem Dach der Kutsche verstauen. Der jüngere der beiden macht dabei einen sehr flotten und flinken Eindruck. Endlich setzen sich die vier kräftigen Pferde in Bewegung und ziehen die Postkutsche über das Kopfsteinpflaster der Wiener Straßen. 
Nachdem sie die Stadt verlassen haben, führt sie der holprige, gefrorene Weg durch eine flache, kahle Winterlandschaft, die durch den gefallenen Schnee wie in Weiß getüncht erscheint. Immer wieder bietet sich Simon ein klarer Blick auf einen hohen Berg, auf den sie die ersten Stunden so zielstrebig zuhalten, als wäre er der Bestimmungsort ihrer Reise. So durchqueren sie die Orte Günseldorf, Wiener Neustadt und Neunkirchen und erreichen schließlich Schottwien, wo sie die erste Nacht verbringen werden. Nachdem sie an der Mautstelle vor der unteren Wehrmauer ihre Abgabe gezahlt haben, ziehen die Pferde die Kutsche durch den Ort und an der Kapelle vorbei, um schließlich vor dem Posthof zum Stehen zu kommen.
Victor Gruber, der ältere Kutscher schaut sich nach hinten zu Simon um: „Herr Brown, können Sie sich noch bewegen? Passen Sie auf, wenn Sie vom Wagen steigen, ihre Glieder sind steif und ausgekühlt.“
Probeweise bewegt Simon seine Beine, fühlt sich aber noch recht beweglich. Während Gruber mit den Papieren den Posthof betritt, hilft der jüngere Kutscher, Paul Vogel, den Reisenden aus der Kutsche und will sich dann dem Gepäck auf dem Dach zuwenden. Simon aber ist schneller und springt von seiner Sitzbank auf das Kutschendach. „Bleiben Sie ruhig unten, ich gebe Ihnen die Gepäckstücke herunter.“
„Das müssen Sie nicht tun, das ist eigentlich meine Aufgabe“, meint Vogel verlegen.
„Aber es spricht hoffentlich nichts dagegen“, lacht Simon. „Ich würde mich sonst eh nur langweilen.“
Schmunzelnd schaut der junge Mann nach oben und streckt seine Arme aus. „Nein, nein, wenn ich Sie vor Langeweile bewahre, habe ich mit der Hilfe kein Problem.“
Zügig ist das Gepäck abgeladen und schließlich springt Simon zu seinem Seesack auf den Boden. „Sind die anderen schon im Gasthof?“, fragt er Paul Vogel.
„Die sind schon reingegangen. Aber keine Angst: Hier gibt es ausreichend Zimmer. Außerdem ist die Küche gut und reichhaltig.“
Simon bekommt von der Wirtin, einer in Tracht gekleideten Frau, die einen für ihn schwer verständlichen Dialekt spricht, eine Kammer im ersten Stock zugewiesen. Diese ist recht klein, aber ordentlich eingerichtet und ausgesprochen sauber. Vor dem Fenster nach hinten hinaus ist es dunkel geworden; außer ein paar Lichtpunkten in der Ferne ist nichts zu sehen. Kurz denkt Simon darüber nach, sich ein paar Minuten auf dem Bett auszuruhen, aber der Hunger ist stärker als seine Müdigkeit, sodass er sich nach unten in die gut besuchte Gaststube begibt. Während er sich noch nach einem freien Tisch umschaut, steht unerwartet ein etwa vierzehnjähriges Mädchen neben ihm. „Entschuldigen Sie, Sie sind doch der Herr, der hinten auf der Kutsche mitfährt, oder?“
„Ja, der bin ich.“
„Wollen Sie sich nicht zu uns an den Tisch setzen?“
Das Mädchen zeigt auf einen größeren Tisch, an dem sich eine kleine, müde wirkende Gesellschaft versammelt hat. Eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters zeigt auf den freien Stuhl ihr gegenüber und grüßt ihn freundlich.
„Guten Abend, mein Name ist Simon Brown.“
„Dunja Juskowiak“, erwidert eine brünette Dame, die bei Simon durch ihre gepflegte Erscheinung den Eindruck erweckt, der gehobenen Gesellschaft anzugehören. „Ist mir eine Ehre. Das sind meine Tochter Nicolina und mein Sohn Stas, eigentlich Stansilaw. Die Dame neben Ihnen ist die große Magdalena Paoli, eine sehr bekannte Wiener Sängerin.“
Interessiert nickt Simon der mondän wirkenden, auffällig gekleideten Schwarzhaarigen neben sich zu. „Frau Paoli …“, wiederholt er unsicher, was Dunja Juskowiak dazu veranlasst zu fragen: „Sie scheinen Frau Paoli nicht zu kennen. Verraten Sie uns, von woher Sie kommen?“
„Verzeihen Sie, Frau Paoli …“, erwidert Simon verlegen. „Nun, ich komme aus Amerika, bin allerdings in Mainz aufgewachsen und vor einigen Jahren nach Boston ausgewandert.“
„Amerika, die Neue Welt“, schwärmt Dunja Juskowiak. „Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dort drüben aufzutreten, Frau Paoli?“
„Bisher noch nicht“, erwidert die Sängerin. „Wie steht es denn um die Kunst in der Neuen Welt, Herr Brown?“
„Ich muss gestehen, viel Ahnung habe ich davon nicht. Seit meiner Überfahrt nach Boston habe ich bei dem Bankiersehepaar Rowley gelebt, das mich auf großartige Weise gefördert hat. Bei den Rowleys gab es immer mal wieder Hauskonzerte, und die Hausherrin schwärmte, wenn ich mich recht erinnere, von der Hudson River School, deren Künstler von Zeit zu Zeit bei ihr ausstellten und ihr Bilder verkauften.“
„Nun ja, ich habe sowieso nicht vor, nach Übersee zu gehen“, lacht die Sängerin laut und raumeinnehmend. „Die längste Zeit meiner bisherigen Karriere habe ich in Wien gastiert – vor sieben Jahren habe ich im Leopoldstädter Theater debütiert und bis vor vier Wochen bin ich in der Wiener Hofoper aufgetreten.“
„Und jetzt wollen Sie sich in Triest erholen?“
„Nein, Frau Juskowiak, ich habe ein Engagement am Teatro Grande in Triest erhalten.“
„Wie aufregend! Sie müssen so ein interessantes Leben führen, meine Liebe!“
„Nun ja“, ziert sich die Sängerin. „Auch die Kunst ist Arbeit, und ich kann Ihnen versichern, der Erfolg hat auch seine Schattenseiten.“
„Kleine Schatten gibt es überall“, meint Dunja Juskowiak. „Ich fahre übrigens mit den Kindern nach Adelsberg, um meine Eltern zu besuchen. Die betreiben dort die Apotheke. Nicolina und Stas haben ihre Großeltern das letzte Mal vor drei Jahren gesehen; es wird wieder einmal Zeit.“
„Entschuldigen Sie, Frau Paoli“, wirft Simon ein. „ich bin mir nicht sicher, ob ich zu indiskret mit meiner Frage bin, aber ist Magdalena Paoli Ihr Künstlername oder Ihr richtiger Name?“
Die Sängerin lächelt warmherzig und gar nicht beleidigt. „Bei einer so höflichen Art zu fragen, bekommen Sie beides von mir, Herr Brown, ein Lächeln und eine Antwort. Als ich zu singen begann, stellte man mich als Magdalena Paoli vor, meine ersten Engagements bekam ich als Magdalena Paoli, und so blieb ich auch als bekannte Sängerin bei meinem echten Namen, Magdalena Paoli.“
„Schöner Name für eine Künstlerin“, seufzt Dunja Juskowiak, „ganz anders als Huber oder Mayer … Magdalena Paoli, das klingt extravagant. Was meinen Sie, Herr Brown?“ Simon antwortet mit einem Schmunzeln, aber die redselige Frau Juskowiak fährt schon fort: „Ach, warum können wir nicht Ihre Gesellschaft in der Kutsche genießen? Stattdessen müssen wir diese beiden langweiligen Herren aushalten! Schauen Sie einmal unbemerkt zum Tisch schräg gegenüber – die beiden sind zwar höflich, aber zu sagen haben sie den ganzen Tag nichts. Nur ab und an tuscheln sie ganz geheimnisvoll untereinander …“
„Ich kann mich nicht einmal an die Namen der beiden Herren erinnern“, pflichtet ihr die Paoli bei.
Simon kann nicht widerstehen, seine Blicke unauffällig auf den besagten Tisch zu richten. Dort sitzen ein grau melierter Herr mit hoher Stirn und ein etwas jüngerer mit vollem schwarzem Haar beisammen und wirken in der Tat eher ungesellig.
„Reiter und Kurek nennen Sie sich. Aber irgendwie sind die mir unheimlich. Der Reiter behauptet, er sei Sattler aus Wien, und der Kurek will Schreiner sein. Aber die beiden machen auf mich einen zu feinen Eindruck, als dass sie Handwerker wären, und haben Sie ihre dünnen, zarten Finger gesehen? Also, der Kurek hat noch alle zehn Finger, und ich frage Sie: Welcher Schreiner hat noch alle seine Finger? Das sind niemals Handwerker!“

Beim Frühstück am nächsten Morgen beobachtet Simon die beiden anderen Mitreisenden, von denen Frau Juskowiak am Abend zuvor gesprochen hat, unauffällig, kann aber aus der Entfernung nichts Ungewöhnliches entdecken. Wenig später verschwinden die Herren in der Kutsche, während Simon wieder seinen Platz auf der hinteren Sitzbank außerhalb der Kutsche einnimmt.
„Wie sieht’s aus, Brown, sitzen Sie bequem?“, ruft Gruber vom Kutschbock aus.
„Alles in Ordnung, von mir aus kann es losgehen.“
„Einen kurzen Augenblick wird es noch dauern. Der Paul kümmert sich noch um die Vorspannpferde.“
„Wird der Anstieg so steil?“, wundert sich Simon.
„Wir wollen nichts riskieren, schließlich ist die Kutsche voll besetzt und der Weg könnte stellenweise vereist sein.“
„Haben wir zwei oder vier Vorspannpferde?“, zeigt sich Simon interessiert.
„Zwei … Sechs Pferde sind unserer Erfahrung nach ausreichend, um die Kutsche sicher über den Pass bringen.“
„Hier sind heute schon einige Fuhrwerke mit bis zu acht Pferden vorbeigekommen. Scheint in Schottwien ein sehr einträgliches Geschäft zu sein.“
„Ja, viele Hoteliers bieten Vorspannpferde an, das ist ein guter und krisensicherer Nebenverdienst. Ah, da kommt der Paul endlich.“
„Schneller ging es nicht“, entschuldigt sich der jüngere Kutscher. „An einem der beiden Kumtgeschirre mussten wir noch einen Riemen austauschen.“
Nachdem auch Paul auf dem Kutschbock Platz genommen hat, treibt Victor die Pferde an. Ein kalter Wind bläst ihnen um die Nase, was Simon allerdings nicht sonderlich stört, da er von seinen Seereisen ganz anderes gewohnt ist. Gleichmäßig mit den Köpfen nickend ziehen die Pferde die Kutsche den Semmering-Pass hinauf, und oben in Steinhaus am Semmering werden die Vorspannpferde dann wieder am Posthof zurückgegeben. Auf dem weiteren Weg durch tiefe Täler, vorbei an hohen, schneebedeckten und teils bewaldeten Bergen, passieren sie das Carolus-Denkmal, kommen durch Mürzzuschlag, Krieglach und Mürzhofen und erreichen gegen Abend Bruck an der Mur. Simon bestaunt im Vorbeifahren das beeindruckende Kornmesserhaus mit seinen sechs Rundpfeilern und den prachtvoll verzierten Eisernen Brunnen.
Am folgenden Morgen macht sich die Reisegesellschaft wie gewohnt früh auf den Weg, der sie zunächst über die Leobnerbrücke führt, die, wie Victor Gruber Simon erzählt, 1827 durch ein Hochwasser zerstört und erst vor fünf Jahren durch Kaiser Franz I. wiedereröffnet wurde. In den folgenden Stunden überqueren sie mehrmals die Mur, die in dieser Gegend durch viele Krümmungen geprägt ist. Einige der Brücken sind gänzlich aus Holz gefertigt, teils in ordentlichem, teils in recht desolatem Zustand. Simon bestaunt von seinem Platz aus die Berglandschaft, in der sich ausgiebige Waldgebiete mit schroffen, kahlen Felsen abwechseln. Immer wieder sind auf den Anhöhen die Ruinen von Burgen und Schlössern zu erkennen. In Graz müssen sich die Reisenden einen Passierschein und ein Visum für die Weiterreise nach Triest ausstellen lassen. Anschließend geht die Fahrt weiter in Richtung Süden, und der Weg wird immer häufiger von im Winterschlaf befindlichen Weinbergen gesäumt, die Simon mit Interesse betrachtet. Über Lebring geht es nach Leibnitz, wo die Gesellschaft im Posthof die dritte Nacht verbringt.
In den nächsten Tagen passieren sie wieder hohe, schneebedeckte Berge und schließlich die Grenze zwischen dem Kaiserreich Österreich und dem Königreich Illyrien, bevor sie schließlich die schöne Stadt Laibach erreichen.

Am sechsten Tag ihrer Reise führt sie ein ausgefahrener Weg durch teils dichte Waldgebiete, und die eisenbereiften Wagenräder knirschen auf dem gefrorenen Boden. Tiefe Schlaglöcher werfen die Reisenden in der Kutsche immer wieder hin und her und auch Simon auf seiner Bank muss sich ordentlich festhalten. Mit einem Mal gibt es einen lauten Knall, und die eine Seite der Kutsche landet mit einem lauten Krachen auf dem Boden, über den sie dann weiter schleift. Paul Vogel muss seine ganzen Kräfte an den Zügeln aufbringen, um die Pferde unter Kontrolle zu halten, während Gruber über seine Schulter nach hinten schaut und brüllt: „Radbruch, so ein verdammter Mist!“
Endlich kommt die Kutsche zum Stehen und Vogel springt aufgeregt vom Kutschbock. „Lass mich mal nachschauen.“
Als er die Kutsche passiert, sind die Fahrgäste schon im Begriff, auszusteigen. Durch das fehlende Rad neigt sich das Gefährt deutlich zur Seite.
„Sind Sie alle unverletzt?“, fragt Vogel besorgt. „Bleiben Sie ruhig, alles kommt in Ordnung.“
Simon geht nach vorne, um zu schauen, ob Victor Gruber Hilfe gebrauchen kann. „Verdammt noch mal, es wird bald dunkel“, zischt der halblaut vor sich hin. „Außerdem gibt es in dieser Gegend Wölfe. Wenn wir hier länger festsitzen, könnte es gefährlich werden, besonders für die Pferde.“
„Sind hier so viel Wölfe unterwegs?“, fragt Simon erstaunt. „Ich habe nachts zwar dann und wann einmal einen heulen gehört, aber in der Regel bekommen wir die doch gar nicht zu Gesicht.“
„Tja, der letzte Sommer war sehr heiß, es gab kaum Regen, sodass es nur wenig Futter für das Wild gab. Also sind auch die Futtervorräte für die Wölfe nicht üppig. In einigen Gegenden müssen die Bauern sogar ihren Viehbestand reduzieren, weil das Heu sonst nicht über den Winter reicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass unsere Postkutsche von Wölfen verfolgt würde.“
„Das Rad ist nicht gebrochen“, ruft Paul jetzt von hinten. „Es ist von der Achse gelaufen.“
„Was?“, knurrt Gruber und steigt vom Kutschbock herunter. „Das gibt es doch nicht.“ Der ältere Kutscher begibt sich ebenfalls nach hinten und kniet sich neben die auf dem Boden aufstehende Achse, um nach eingehendem Betrachten und Betasten festzustellen: „Gott sei Dank, alles in Ordnung. Ich kann keinen Schaden feststellen.“
Vogel hat inzwischen das gelöste Rad aufgerichtet und schaut sich die einzelnen Speichen prüfend an.
„Wir haben Glück im Unglück“, stellt er fest. „Keine Speiche gebrochen. Wie steht‘s mit der Achse?“
„Auch gut. Aber wo ist der Splint?“
Vogel schüttelt den Kopf. „Ich habe auch schon daran gedacht und bin bestimmt hundert Meter in der Wagenspur zurückgelaufen, habe ihn aber nicht gefunden. Wie kann sich der überhaupt gelöst haben?“
„Das ist die Frage“, murmelt Victor Gruber nachdenklich.
„So ein Splint löst sich doch nicht einfach so“, wirft Simon ein. „Die werden mit dicken Lederriemen und Eisenschnallen auf der Achse gehalten.“
„Sie haben recht, Brown. Und die Splintriemen waren tadellos, als ich sie heute Mittag überprüft habe.“ Gruber schaut sich prüfend um. Die Fahrgäste stehen etwas abseits am Weg und unterhalten sich gedämpft. „Hat sich jemand daran zu schaffen gemacht?“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“ Paul Vogel macht eine ratlose Miene. „Ich habe keinen Fremden in der Nähe der Kutsche gesehen und von den Fahrgästen wird wohl niemand ein Interesse daran haben, hier festzusitzen.“
„Ohne Splint geht es jedenfalls nicht weiter. Das Wagenrad würde schon nach kurzer Zeit wieder von der Achse laufen.“
Gruber kratzt sich am Kopf und wendet sich Simon zu: „Können Sie mit Pferden umgehen, Brown? Ich meine, trauen Sie sich zu, ohne Sattel zu reiten?“
„Ja, das kann ich“, bestätigt Simon. „Warum?“
„Ich würde vorschlagen, dass wir Ihnen eines der Pferde zur Verfügung stellen und Sie auf dem schnellsten Weg nach Adelsberg zur Poststation reiten. Die sollen Ihnen helfen, eine Schmiede zu finden – oder am besten besorgen die Ihnen sofort einen neuen Splint. Dann kommen sie zurück.“ Mit ernster Miene schaut Gruber Simon in die Augen. „Ohne Splint geht es nicht, verstehen Sie?“
„Natürlich“, entgegnet Simon. „Aber vielleicht wäre es besser, Paul würde nach Adelsberg reiten, da er sich dort auskennt. Ich könnte Ihnen helfen, das Rad wieder auf die Achse zu bekommen.“
Der Kutscher schüttelt entschieden den Kopf. „Nein, keine gute Idee. Auf dem Ritt kann Paul Ihnen gegenüber kaum Zeit gewinnen. Nur beim Suchen der Poststation und beim Besorgen des Splints könnten wir etwas Zeit einsparen. Demgegenüber müssen wir hier die Kutsche hochwuchten, das Rad auf die Achse schieben, die übrigen Pferde ruhig halten und uns vor Wölfen oder möglichen Wegelagerern schützen.“
Simon versteht. Die beiden Kutscher kennen sich gut und sind ein eingespieltes Team, das nicht viele Worte braucht. „In Ordnung, Gruber. Sie sagen, wie es läuft.“
„Sie sollten eine Waffe mit sich führen, Brown. Haben Sie eine?“
„Nein.“
Victor Gruber macht Simon und Paul ein Zeichen und geht mit den beiden zu den anderen Fahrgästen hinüber. „Werte Damen und Herren, einer der Splinte, die die Wagenräder auf den Achsen halten, ist uns abhandengekommen. Das heißt, wir sitzen hier jetzt fest. Herr Brown wird nach Adelsberg reiten und uns Ersatz besorgen. Zu seiner persönlichen Absicherung benötigt er eine Waffe – kann uns einer der Herren vielleicht aushelfen?“
„Haben Sie denn keine Waffen auf der Kutsche?“, fragt Paul Reiter. „Sie müssen uns doch im Notfall verteidigen können?“
„Dafür führen wir zwei Musketen mit uns, die wir vielleicht auch noch brauchen werden“, erklärt Gruber. „Herrn Brown ist damit allerdings nicht geholfen. Nun, auch von Ihnen könnte jemand nach Adelsberg reiten und uns den Splint besorgen … sollte er sich denn im Stande sehen, ohne Sattel zu reiten.“ Reiter und sein Begleiter Kurek schauen betreten vor sich. „Also, noch einmal die Frage: Führt einer der Herren eine Waffe mit sich?“
Ein wenig widerwillig zieht Paul Reiter eine Pistole aus seiner Manteltasche und händigt sie Simon aus.
Gruber nickt beifällig. „Sobald wir das Wagenrad wieder auf die Achse bekommen haben, können Sie wieder in der Kutsche Platz nehmen. Paul, hol unseren Kasimir aus dem Geschirr, damit Herr Brown loskommt. Wir wollen keine Zeit verlieren.“

Das Reiten ohne Sattel ist für Simon zwar ungewohnt, aber es ist ihm ganz und gar nicht fremd. Wie oft hat er sich in seiner Jugend ein Pferd aus dem elterlichen Stall geborgt, um durch die Weinberge zu reiten und die Umgebung zu erkunden … Damals hatte er sich eine spezielle Technik einfallen lassen müssen, um überhaupt auf den Rücken eines ausgewachsenen Pferdes zu gelangen. Das Hantieren mit einem schweren Ledersattel wäre völlig undenkbar gewesen.
Den Kragen gegen die Kälte aufgestellt, reitet Simon den gefrorenen, ausgefahrenen Weg entlang, immer den Wegesrand im Blick und darauf bedacht, dass Kasimir nicht ins Rutschen kommt. Der sternenklare Himmel und die nur schmal leuchtende Sichel des zunehmenden Mondes über ihm lassen eine kalte Nacht erwarten.
Nach etwa einer halben Stunde werden die Lichter einer Ortschaft sichtbar und nach einer weiteren halben Stunde hat er Adelsberg erreicht. Simon sucht die Mitte des Ortes und kann glücklicherweise einen älteren Herrn, der vor einer Haustür an seiner Pfeife zieht, nach dem Posthof fragen. Der Postbeamte schickt Simon zur Schmiede von Filip Dolenc und bietet Simon an, für die Reisenden gleich Zimmer für die Nacht zu reservieren.
Einige Minuten später tritt Simon durch die doppelflügelige hohe Tür der Schmiede, die anhand der lauten Hammerschläge, die so spät noch ertönen, leicht zu finden war. Im Inneren ist der Lärm so ohrenbetäubend, dass er sich durch lautes Schreien Gehör verschaffen muss. „Hallo! Herr Dolenc!“
Der Schmied, ein großgewachsener, breitschultriger Mann, der über und über mit Rußspuren bedeckt ist, steht hinter einem dicken Amboss und schlägt mit einem Hammer auf ein glühendes Eisen. Als er Simon wahrnimmt, hält er inne. „Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?“
„Eine Postkutsche ist liegen geblieben, etwa eine Stunde von hier. Ein Rad ist von der Achse gelaufen und wir benötigen einen neuen Splint für die Hinterachse.“
„Splint, ja, habe ich, Moment“, brummt der Schmied und fängt wieder an, das noch funkelnde Stück Eisen vor sich zu bearbeiten. Erst als das Glühen nachlässt, legt er Hammer und Zange zur Seite und schaut Simon erneut an. „Dann kommen Sie, ich habe verschiedene Exemplare vorrätig.“
Filip Dolenc geht zu einem großen Regal, in dem Dutzende von Holzkisten stehen, zieht eine gezielt heraus und stellt sie auf der nächsten Werkbank ab. Simon fällt beim Blick in die Kiste eine Last von den Schultern, denn gleich obenauf sieht er einen Splint, der die passende Größe zu haben scheint, und ein Lederriemen ist auch daran befestigt.
„Wie werden die Splinte in ihrer Position gehalten?“, will der Schmied jetzt wissen. „Mit einer Konterschraube, einer Klemme oder einem Lederriemen?“
„Dieser hier, der mit dem Lederriemen, scheint genau der richtige zu sein.“ Simon nimmt den Splint aus der Kiste und betrachtet ihn von allen Seiten.
„Das ist ein sehr gängiges Modell“, nickt Dolenc und hält Simon seine offene Hand entgegen. „Zwei Gulden, dann gehört er Ihnen.“
Simon zahlt, bedankt sich bei Dolenc und verabschiedet sich. Vor der Schmiede bleibt er erstaunt stehen: Drei Männer warten hier auf ihn, darunter der Mann aus dem Posthof. „Konnte Filip Ihnen helfen?“, fragt er. „Haben Sie den Splint?“
„Ja, vielen Dank.“ Simon hält den Splint in die Höhe. „Ich mache mich dann lieber gleich wieder auf den Weg.“
„Entschuldigen Sie, Herr … Brown war doch Ihr Name?“
„Ja, korrekt.“ Stirnrunzelnd bleibt Simon stehen. Was wollen die Männer von ihm?
Der Postbeamte räuspert sich. „Die beiden Herren hier sind von der Polizei, genauer gesagt …“
„… von der Geheimpolizei aus Wien“, ergänzt der kleinere der beiden anderen Männer. „Franc Zorko und Mark Jabec.“
Geheimpolizei! Sofort tritt Simon einen Schritt zurück und er spürt, wie sich seine Nackenhaare aufstellen. „Können Sie sich ausweisen?“
Beide Männer zeigen ihm ihre Papiere, die in Ordnung zu sein scheinen. „Wir haben nur ein paar Fragen“, erklärt der Mann, der sich als Franc Zorko vorgestellt hat. Simon schätzt ihn auf etwa vierzig Jahre, obschon er nur noch wenige Haare hat, sodass seine großen Ohren auffallen. Sein Partner wirkt etwa zehn Jahre jünger, ist von robusterer Statur und wesentlich athletischer. „Herr Rozman aus dem Posthof hat uns von Ihrem Malheur berichtet. Wo hat Ihre Reise denn begonnen und wo soll sie enden?“
„Wir sind auf dem Weg von Wien nach Triest.“
„Und wo ist die Kutsche liegen geblieben?“
„Auf der Straße von Planina nach Adelsberg, mitten in einem größeren Waldgebiet.“
„Wer sind Ihre Reisebegleiter?“
„Die Sängerin Magdalena Paoli, Frau Dunja Juskowiak mit ihrer Tochter Nicolina und ihrem Sohn Stas, Paul Reiter und Miroslav Kurek.“
Zorko scheint mit einem leichten Nicken in Jabecs Richtung etwas zu bestätigen.
„Beschreiben Sie uns mit ein paar Worten diesen Paul Reiter.“ Mark Jabec sieht ihn an und kratzt sich dabei am Nacken.
„Nun, er ist etwa fünfzig Jahre alt und von mittlerer Größe, hat eine schlanke Gestalt, eine hohe Stirn und tiefliegende blaue Augen.“
Wieder ein kurzer Blickwechsel zwischen den beiden Polizisten. Ist Reiter für sie von Interesse?
„Wie sieht es mit seinem Begleiter aus, diesem Herrn Kurek?“
„Ihn würde ich auf Mitte dreißig schätzen. Auch er ist schlank, von mittlerer Größe, hat dichtes schwarzes Haar. Beide sind eher unauffällig gekleidet.“
„Eine letzte Frage, Herr Brown. Warum konnte Ihrer Ansicht nach das Wagenrad von der Achse laufen?“
„Nun“, erklärt Simon, „wenn der Splint fehlt, bleibt das Rad nicht auf der Achse.“
Jabec runzelt die Stirn. „Aber wie kann denn so ein Splint verschwinden?“
„Die Kutscher vermuten, dass es sich um Manipulation handeln könnte.“
„Jemand wollte, dass die Kutsche liegen bleibt?“
„Möglich.“ Simon zuckt mit den Achseln. Aufgrund der fortschreitenden Zeit wird er langsam unruhig. „Wenn Sie keine Fragen mehr haben, würde ich jetzt gerne aufbrechen. Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis die anderen Fahrgäste im Warmen und in Sicherheit sind.“
„Wir werden Sie begleiten“, erklärt Jabec. „Unsere Pferde stehen am Posthof.“
Simon löst Kasimirs Zügel von der Halterung vor der Schmiede und folgt den drei Männern. „Warum Sie sich gerade für diese Kutsche interessieren, können Sie mir nicht verraten, oder?“, fragt er neugierig. „Vielleicht kann ich helfen?“
„Nein, Herr Brown, Sie helfen uns schon, indem Sie uns zur Kutsche bringen.“
„Dann mal los …“
Ab dem Posthof geht alles schnell – die beiden Polizisten folgen Simon auf ihren gesattelten Pferden. Wortlos reiten sie durch die Nacht, begleitet vom gleichmäßigen Schnauben der Pferde und dem Knirschen ihrer Hufe auf der festgefahrenen Schneedecke. Von Zeit zu Zeit wirft Simon einen Blick über seine Schulter, um sicherzustellen, dass seine Begleiter den Anschluss nicht verlieren. Aus der Ferne meint er, zwischendurch das Heulen von Wölfen zu hören – ein unheimliches Geräusch. Er hofft inständig, dass ihnen die Begegnung mit einem Rudel erspart bleibt.
Endlich tauchen vor ihnen ein paar einzelne Lichtpunkte zwischen den Bäumen auf, die allmählich als Lampen an den jeweiligen Ecken der Kutsche erkennbar werden.
„Halt! Wer da?“, schreit unvermittelt eine laute Stimme aus der Dunkelheit.
„Ich bin es, Brown“, schreit Simon zurück und lässt sein Pferd anhalten. Jetzt erst erkennt er Victor Gruber, der hinter einem Baum steht und eine Muskete auf sie gerichtet hat. „Ich bin in Begleitung, Gruber, keine Gefahr.“
Direkt vor der Kutsche springen die Reiter ab und stellen einander vor.
„Polizei?“, fragt Gruber verwundert. „Was um Himmels Willen macht die Polizei hier?“
„Geheimpolizei, um genau zu sein“, ergänzt Simon, was Gruber sichtlich schockiert.
„Herr Gruber, wir sollen dafür Sorge tragen, dass die Herren Reiter und Kurek Triest sicher erreichen“, erklärt Zorko. „Eigentlich sollten wir in Adelsberg auf sie warten, aber wegen des Radschadens sind wir nun besser mitgekommen.“
„Ich werde die Herren erst einmal begrüßen“, meint Jabec. „Ich nehme an, sie befinden sich in der Kutsche?“
„Nein, sie sind vor einiger Zeit dort …“, Gruber zeigt mit ausgestrecktem Arm in den Wald, „dort drüben in den Wald gegangen.“
„Warum sind sie in den Wald hineingegangen?“ Wieder werfen sich die beiden Polizisten wissende Blicke zu.
„Da fragen Sie am besten die anderen Kutscheninsassen.“
Die Polizisten schliddern auf der glatten Schneedecke zur Kutschentür, die Zorko glücklicherweise bereits fest in der Hand hält, als er ausrutscht und beinahe hinschlägt.
Nach dem ersten Schreck fassen sich Dunja Juskowiak und Magdalena Paoli schnell und beantworten den Beamten ihre Fragen. Sie berichten, dass die beiden gesuchten Herren seit vielleicht fünfzehn Minuten im Wald verschwunden seien, weil Herr Kurek behauptete, ein Geräusch gehört zu haben. Der zweite Kutscher, Paul Vogel, sei sie suchen gegangen.
„Sie bleiben alle in der Kutsche!“, befiehlt Franc Zorko streng. „Komm, Mark, gehen wir sie suchen. Gruber, Sie bewachen die Kutsche! Ist der Vogel bewaffnet?“
„Ja, er hat die zweite Muskete“, nickt Victor Gruber. „Kann ich nicht mitkommen?“
„Nein, Sie bleiben bei der Kutsche! Sie tragen die Verantwortung.“
Der Kutscher nickt und wendet sich an Simon: „Haben Sie den Splint, Herr Brown?“
„Ja, es ist genau der gleiche, da bin ich mir sicher.“
Simon zieht den Splint aus der Jackentasche und gibt ihn dem Kutscher, der ihn eingehend betrachtet. „Der sieht gut aus. Können Sie den Kasimir trockenreiben? Tücher finden Sie unter dem Kutschbock. Ich montiere in der Zwischenzeit den Splint und bringe dann den Kasimir zurück ins Geschirr.“
Ein wenig später stellt sich der ältere Kutscher neben Simon und starrt in den dunklen Wald hinein. „Haben Sie schon etwas gesehen oder gehört?“
Simon schüttelt den Kopf und klopft dem abgeriebenen Kasimir die Flanke. „Nein. Wenn sie zurück sind, können wir weiterfahren. Wie steht es mit dem Splint?“
„Der passt perfekt. Als wäre er für unsere Kutsche gemacht.“
Wie aus dem Nichts ertönt ein kurzer Knall. Gruber zuckt zusammen und geht reflexartig in die Knie. „Mein Gott, ein Schuss! Was ist da los?“
Simon schaut sich um, kann aber nichts weiter hören. „Keine Ahnung. Der Schuss kam nicht aus der Richtung, in die die Polizisten gegangen sind. Der kam aus Richtung Adelsberg … Hier, nehmen Sie die Zügel, Gruber!“
„Wo wollen Sie denn hin?“
„Ich muss wissen, was da läuft.“
Simon will schon losrennen, aber der Kutscher hält ihn zurück und streckt ihm einen Dolch entgegen, den er aus der Jackentasche gezogen hat. „Sie können nicht unbewaffnet in den Wald hineinlaufen.“
„Danke“, antwortet Simon, „aber ich bin nicht unbewaffnet.“
„Sie könnten sich verlaufen“, argwöhnt der Kutscher. Ihm ist sichtlich immer noch nicht wohl bei der Sache.
Simon schaut in den Himmel, um den Polarstern auszumachen. „Navigation, Gruber. Ich bin Seemann.“
Schon rennt er los und bahnt sich einen Weg durch das Unterholz. Glücklicherweise liegt der Schnee unter den dichten Baumkronen des Waldes nur etwa knöchelhoch, so dass er einigermaßen vorankommt. Immer wieder muss er aufpassen, dass ihm einzelne Äste nicht zwischen die Beine kommen oder ins Gesicht schlagen. Zwischendurch bleibt er stehen, um zu lauschen und sich zu orientieren. Dabei achtet er besonders auf die unberührte Schneedecke. So bewegt er sich immer weiter in den Wald hinein, bis er zu einer Stelle kommt, an der eine schmale und eine breite Fährte seinen Weg kreuzen. Es sind eindeutig menschliche Fußspuren. Simon folgt ihnen und muss nun aufpassen, möglichst leise zu sein, um nicht auf sich aufmerksam zu machen.
Nach einer Weile erkennt er in einiger Entfernung vor sich die Umrisse dreier Gestalten. Eine Person geht vorweg, die anderen folgen ein paar Meter dahinter. Auf die Entfernung kann Simon nicht verstehen, was sie sagen. Unerwartet bricht unter seinen Füßen ein Ast, begleitet von einem dumpfen Knacken. Geistesgegenwärtig lässt er sich lang nach vorne in den Schnee fallen. Die drei Gestalten bleiben stehen und blicken in seine Richtung, scheinen ihn aber nicht zu erkennen, da sie ihren Weg gleich wieder fortsetzen. Vorsichtig folgt Simon ihnen weiter und nähert sich ihnen dabei langsam. Schließlich erkennt er, dass es Reiter ist, der vorneweg geht, dahinter zeichnet sich Paul Vogels schmale Gestalt ab und zum Schluss ist Kurek zu sehen, der Pauls Muskete über seiner Schulter trägt.
„Fürst Esterházy, Sie können jetzt stehen bleiben!“, befiehlt Kurek mit einem Mal. „Vogel, du stellst dich neben den Fürsten, aber Abstand halten.“
Fürst Esterházy? Ist Reiter ein Fürst? Simon versteht gar nichts mehr. Die Männer vor ihm tauschen auf jeden Fall hektische Blicke aus und wirken angespannt und nervös.
„Ivo, was versprechen Sie sich davon?“, fragt nun Paul Reiter, der nicht Paul Reiter ist. „Was wollen Sie erreichen?“
Ivo … Auch dieser Name ist ein anderer. Reisen die beiden Herren etwa unter falschem Namen? Simons Gedanken jagen einander, während er gleichzeitig die Szene weiter beobachtet.
„Ich werde verhindern, dass es zu Ihrem geheimen Treffen mit Duško Katičić und Radoslav Belaj in Triest kommt“, brüllt der Mann mit der Muskete jetzt zornig.
Der mit Fürst Esterházy Angesprochene stößt ein verächtliches Schnauben aus. „Und wie wollen Sie das verhindern?“
„Nun, es muss getan werden, was getan werden muss!“ Ivo richtet seine Pistole auf sein Gegenüber.
„Warten Sie“, fleht der jetzt und hebt beschwichtigend die Hände. „Denken Sie nach: Gewalt erzeugt nur wieder Gewalt. Meine Absichten sind friedlich. Ich treffe mich mit einflussreichen Mitgliedern der Illyrischen Bewegung, um die slawischen Völker im Habsburger Reich besser zu integrieren. Wir wollen politische und gesellschaftliche Spannungen abbauen und eine Abspaltung verhindern. Daran ist nichts Schlechtes.“
Simon begreift kaum ein Wort von dem, was da gesprochen wird. Dennoch schleicht er sich vorsichtig von Baum zu Baum näher an Ivo heran und achtet dabei darauf, dass dieser ihn nicht aus dem Augenwinkel wahrnehmen kann.
„Sie wissen genau wie ich, dass wir immer mehr Zeit für Veränderungen verlieren, Fürst Esterházy. Es werden wieder Monate, vielleicht sogar Jahre ins Land gehen, bis etwas passiert. Wir wollen aber jetzt Veränderungen – sofort! Die Herzogtümer Krain, Kärnten und Steiermark sollen sich vom Habsburger Reich lossagen – für die Gründung eines unabhängigen Illyrischen Königreiches!“
„Sie haben sich also einer radikalen Gruppierung angeschlossen?“ Der Fürst scheint für einen kurzen Moment sprachlos zu sein, dann fasst er sich wieder. „Wie dem auch sei, lassen Sie uns am friedlichen Weg festhalten. Kaiser Franz hat mich mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Ich bin extra aus London angereist, um mit Katičić und Belaj das weitere Vorgehen zu verhandeln … Es wird mehr Freiheiten für die Herzogtümer geben, mehr Freiheiten für die Illyrer, aber alles unter dem Dach Österreichs.“
„Nein“, knurrt der andere. „Unsere Freiheit ist nicht verhandelbar.“ Wieder hebt er drohend die Pistole.
Simon wirft einen kurzen Blick auf den jungen Kutscher Paul, der ängstlich daneben steht und offenbar nicht weiß, wie ihm geschieht.
„Sie wollen mich tatsächlich erschießen, damit keine Verhandlungen stattfinden?“
„Herrgott noch einmal, Fürst, jetzt …“ Für einen kurzen Moment, während er über eine gebührende Antwort nachdenkt, lässt Ivo seine Waffe in der Hand sinken. Genau auf diesen Augenblick hat Simon gewartet. Er springt aus seiner Deckung hervor und wirft den Angreifer mit seinem Körpergewicht zu Boden. Ein Schuss löst sich mit einem durchdringenden Knall, aber niemand scheint getroffen worden zu sein. Simon stemmt sich schnell wieder hoch, schlägt dem Mann hart an die Schläfe, sodass dieser das Bewusstsein verliert, und greift nach der Pistole.
„Sind Sie in Ordnung?“, wendet er sich an Fürst Esterházy und Paul Vogel.
„Ich muss mich einen Moment setzen“, gesteht der Fürst stoßweise atmend. Er tastet nach einem hinter ihm liegenden Baumstamm.
Der junge Kutscher nickt bloß stumm und starrt immer noch geschockt auf den am Boden liegenden Ivo. Als der sich wieder zu regen beginnt, streckt Simon eine warnende Hand nach ihm aus. „Liegen bleiben …“
Schritte und Keuchen nähern sich, dann tauchen Zorko und Jabec aus dem Dunkel auf. „Ist jemand verletzt?“
Da Fürst Esterházy immer noch schwer atmet und Ivo kein Wort herausbringt, wendet sich Simon an die Polizisten: „Es ist niemandem etwas geschehen. Aber dieser Kurek oder Ivo, wie auch immer er heißen mag, hat Fürst Esterházy und den Kutscher Paul Vogel mit dieser Pistole bedroht.“
„Der … der hätte sie auch benutzt … Da bin ich mir sicher“, stammelt der Fürst und blickt die beiden Männer misstrauisch an. „Aber wer sind Sie?“
„Zorko und mein Kollege Jabec, Geheimpolizei Wien. Wir sollen dafür Sorge tragen, dass Sie und Staatssekretär Sobotka hier sicher nach Triest gelangen.“
„Sie müssen Staatssekretär Sobotka umgehend in Gewahrsam nehmen und ihn nach Wien überstellen“, verlangt Esterházy. „Ansonsten ist unsere Mission schon im Vorfeld gescheitert.“
Jabec nickt und legt dem Staatssekretär Handschellen an. „Herr Sobotka, Sie sind hiermit unter Arrest gestellt.“
Während die Männer sich auf den Weg durch den Wald machen, geht Simon zu Paul Vogel hinüber, der immer noch sprachlos an einem Baum lehnt. „Das war knapp“, meint er. „Alles in Ordnung, Vogel?“
Der junge Kutscher zittert und müht sich sichtlich, sich zu beruhigen. „Einen Augenblick habe ich gedacht, es ist vorbei … Auf einmal hat er mir die Muskete abgenommen; dabei hat sich ein Schluss gelöst. Ich hätte nie gedacht, dass von Kurek eine Gefahr ausgeht … Und als er so vor uns stand, die Pistole im Anschlag … Ich habe gedacht, das war’s.“

In meinem späteren Leben dachte ich immer mal wieder an die aufregende Nacht in Wien zurück. Das sich ein harmloser Münchener Schuhmacher plötzlich im Zentrum einer politischen Affäre in der Wiener Gesellschaft wiederfand und man ihm aus diesem Grund nach dem Leben trachtete, schien mir im Rückblick schlichtweg unglaublich. Ich hoffe immer noch, dass Oskar damals lebendig und unbeschadet aus der Angelegenheit herausgekommen ist. Gehört habe ich von ihm nie wieder etwas.
Dafür fand ich mich schon gleich in der nächsten unglaublichen Geschichte wieder. Zwei Handwerker, die sich als Diplomat und Staatsekretär entpuppten und von denen einer schließlich als Revolutionär auftrat – was konnte man mehr von einer erlebnisreichen Reise nach Triest erwarten?

Bitte geben Sie die Zeichenfolge in das nachfolgende Textfeld ein

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.