6.1 Ein Wiener Walzer zu viel

26.01.1835
In Lissabon heiraten Königin Maria II. von Portugal und Auguste de Beauharnais. Die Ehe währt jedoch nur kurz, da der Gemahl am 28. März an einer Angina verstirbt.

30.01.1835
Erster Attentatsversuch auf einen US-amerikanischen Präsidenten: Andrew Jackson wird von dem arbeitslosen Anstreicher Richard Lawrence vor dem Kapitol mit zwei Pistolen angegriffen, jedoch nicht verletzt.

20.02.1835
Charles Darwin wird Zeuge eines schweren Erdbebens bei Valdivia in Chile.


Es ist eisig kalt an diesem Januarmorgen in der kleinen Kapelle des Rittergutes der Familie von Zwangen in Gau-Fallersheim. Trotz seiner reichlichen Verzierung wirkt der Eichenholzsarg vorne im Altarraum mit seiner Dekoration aus Tannenzweigen und Kerzen düster. Für Josephine hätte sich Simon eine farbenfrohere Gestaltung gewünscht, doch woher sollten im tiefen Winter frische Blumen kommen?
Simon seufzt. Schon vor zwei Tagen war er mit seiner Familie hier, um gemeinsam mit den von Zwangens seiner verstorbenen Schwester und ihres ungeborenen Kindes zu gedenken und den Rosenkranz zu beten. Heute nun steht ihnen der endgültige Abschied bevor. Wider besseres Wissen schlummert in Simon irgendwo immer noch die verzweifelte Hoffnung, dass alles nur ein Missverständnis sein könnte, ein bösartiger Traum, aus dem er wieder erwachen würde. Aber das schmerzhafte Stechen in seiner Magengegend sagt ihm etwas anderes. Nein – nie wieder wird es ein Gespräch mit Josephine geben, wird er ihr fröhliches Lachen hören … Und dabei liegt das letzte persönliche Gespräch mit seiner Schwester schon so lange zurück – fast sechs Jahre, wie Simon erschrocken feststellt.
Hätten sie seine Schwester doch wecken sollen, als er mit Konrad an ihrem Bett stand? Sie sah so friedlich aus, wie sie dort schlief. Nein! Schlussendlich war ihr Tod das Ergebnis einer Aneinanderreihung unglücklicher Umstände. Simon hätte nichts daran ändern können. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, sieht er sich in der Kapelle um. Vorgestern war sie ihm recht groß vorgekommen, heute dagegen – bis auf den letzten Stehplatz vollgestopft mit Menschen – wirkt sie winzig. Zur Beerdigung sind zwar nur die engsten Verwandten geladen, doch diese allein füllen den vorhandenen Raum bis auf den letzten Winkel. Konrads Eltern hatten mehrfach vorgeschlagen, die Trauerfeier lieber in der örtlichen Kirche abhalten zu lassen, aber Konrad hatte sich unter keinen Umständen davon abbringen lassen, den Ort zu wählen, der den schönsten Tag seines Lebens geprägt hatte.
So sitzt Simon in der zweiten Reihe der Kapelle zwischen Thesi, die ihren Kopf an Christophs Schulter gelehnt hat, und seiner Mutter, die ihre Hände nervös in ihrem Schoß knetet. Beide Frauen ringen um Fassung, dennoch gelingt es ihnen nicht, ihre Tränen zurückzuhalten. In der Reihe vor ihnen sitzt die Familie von Zwangen. Obwohl Simon Konrads Vater, Graf Maximilian von Zwangen, erst ein paar Mal zuvor gesehen hat, ist er sich sicher, dass er den Personen seines Umfeldes ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Dieser weißhaarige, großgewachsene Mann strahlt Souveränität, Besonnenheit und Sachlichkeit aus, ohne dabei empathielos oder arrogant zu wirken. Der Graf hatte Simon schon bei ihrer ersten Begegnung beeindruckt.
Während der Priester mit seiner Ansprache beginnt und sowohl tröstende als auch ermutigende Worte an die Trauernden richtet, fällt Simons Blick auf das kleine Totenkärtchen in seinen Händen, das ihm jemand beim Betreten der Kapelle in die Hand gedrückt hat. „Wir trauern um Gräfin Josephine von Zwangen …“, liest er still vor sich hin. Plötzlich sieht er sich vor seinem inneren Auge wieder am offenen Grab von Jan ter Brüggen stehen. Erst gestern hatte diese andere Trauerfeier stattgefunden. Der Rest seiner Familie hatte sich nicht imstande gesehen, einen Tag vor Josephines Beerdigung an Jans Trauerfeier teilzunehmen, und so waren neben Simon nur Corrie, ihre Mutter Benthe und deren Ehemann, der Schuhmacher Bram van de Pol aus Maastricht, sowie Doktor Krone die einzigen Trauergäste.
Corrie hatte sich noch einmal sehr herzlich bei Simon für seine Unterstützung bedankt – und doch war er mit sich nicht im Reinen. Über viele Jahre hatte sich seine Freundschaft mit Jan entwickelt, dann war er mehrere Jahre fort gewesen, nur um jetzt kurzfristig zurückzukehren und ihn sterben zu sehen. Hatte er Jan mit seinem spontanen Besuch, mit seinen ausgiebigen Erzählungen überfordert? War er egoistisch gewesen und hatte nicht genügend Rücksicht auf den gesundheitlichen Zustand des Holländers genommen? Und dann wurde ihm fast zeitgleich auch noch seine geliebte Schwester entrissen … Josephine, die doch immer da war … Die Chance für eine gemeinsame Zeit ist abgelaufen und die Zeit danach, die Zeit ohne sie, hat jetzt unwiderruflich begonnen. Zwei geliebte Menschen, die ihm trotz aller Entfernung so wichtig waren, auf derartige Art und Weise und innerhalb so kurzer Zeit zu verlieren, schmerzt einfach zu sehr.
Simon spürt eine gewaltige Last auf seinen Schultern und einen unsäglichen Druck auf seiner Brust. Aber dann wird ihm noch etwas anderes klar: Er will nicht noch einen dritten geliebten Menschen verlieren. Und das heißt, er muss so bald wie möglich den Spuren von Marala weiter folgen und alles in seiner Macht Stehende tun, um wenigstens sie zu retten. Vor Neujahr werden seine Eltern ihn nicht fahren lassen, aber direkt danach wird er seine Reise nach Wien in Angriff nehmen.

Kaum zwölf Tage nach dem Jahreswechsel wird Simon auf dem harten Sitz der Postkutsche von Mainz nach Darmstadt durchgeschüttelt. Trotz der unbequemen Fortbewegung fallen ihm schnell die Augen zu – zu groß ist seine Erschöpfung nach den letzten Tagen voller Trauer mit seiner Familie. Wie im Nebel ist diese Zeit an ihm vorbeigezogen, bis er sich am Morgen des 12. Januar 1835 von seinen Lieben verabschiedete. Simon hatte auf einen raschen Aufbruch gedrängt, weil er sein Schiff in Triest unter keinen Umständen verpassen wollte, aber auch, um der schwer lastenden, traurigen Stimmung zu Hause zu entfliehen.
Nun fallen ihm unweigerlich die Augen zu, doch seine Gedanken rasen weiter, irren führungslos durch Raum und Zeit; alte Erinnerungen kommen hoch, paaren sich mit Ängsten um Gegenwart und Zukunft. Simon ist nicht in der Lage sie zu ordnen, er will einfach nur fort, weiter und weiter. Mechanisch nimmt er wie durch Nebel seine Umwelt wahr, verlässt am Abend die Kutsche, übernachtet in einem Gasthaus, besteigt morgens wieder die Kutsche und ein neuer orientierungsloser Tag beginnt. Dergestalt reist er in den nächsten knapp zwei Wochen von Mainz über Darmstadt, weiter nach Rothenburg ob der Tauber, Regensburg und über Passau und Linz nach St. Pölten, ohne dass er bewusst Landschaft, Orte oder Mitreisende wahrnimmt.
Zum hundertsten Mal zieht Simon einen mittlerweile abgegriffenen Umschlag aus seiner Jackentasche. Vorsichtig falten seine unruhigen Finger das knittrige Papier auseinander, das an den Kanten inzwischen fast durchsichtig schimmert. Eigentlich ist ihm sein Inhalt schon lange im Gedächtnis eingebrannt und doch folgt er immer wieder dem hektischen Schwung des Bleigriffels.

Amsterdam, 6. November 1834

Liebster Simon,

mein verstorbener Gatte wird zur Einäscherung nach Indien verschifft, während Ranjana, Lali und ich in einem Keller in Amsterdam festgehalten werden und auf unsere Abreise nach Bombay warten. Ranjana ist der Überzeugung, dass wir in einer großen Zeremonie in Peschawar, dem Heimatort der Kapurs, verbrannt werden sollen. Mein Schicksal scheint vorbestimmt, mein Ende naht, deshalb will ich offen sprechen.
In meinem Herzen ist ausschließlich Platz für dich. Die Hochzeit war ganz und gar nicht mein Wunsch, aber ich hatte weder das Recht noch die Kraft, mich meinen Eltern zu widersetzen.
Liebster Simon, unsere Liebe ist so stark, dass wir uns in der Zukunft begegnen werden, in diesem oder einem späteren Leben. Behalte mich in deinem Herzen. Die Götter mögen dich beschützen.

Deine Marala

Ein kräftiger Schlag in den Rücken, verbunden mit dem kurzen Aufschrei einer weiblichen Stimme, holt Simon zurück in die Gegenwart. Eines der unzähligen Schlaglöcher auf der Landstraße hat die Fahrgäste der Kutsche hin und her geworfen. Simon wirft einen Blick aus dem Fenster, vor dem eine weiße Winterlandschaft vorüberzieht. Dann faltet er den Brief sorgsam wieder zusammen und steckt ihn zurück.
Als er aufsieht, blickt er in das Gesicht eines etwa achtjährigen Jungen, der ihm gegenübersitzt. Der Bub wendet sich an die links neben ihm sitzende Dame und flüstert: „Tante Jacoba, der Mann ist ja gar nicht tot.“
Die Dame hebt erstaunt die Augenbrauen. „Tot, Luipold? Wie kommst du denn darauf?“
„Na, weil er sich bis eben die ganze Zeit nicht bewegt hat.“
Simon muss über den aufgeweckten Jungen schmunzeln. „Ich habe wohl lange geschlafen“, meint er freundlich.
„Wohin fahren Sie?“, fragt der Junge nun neugierig. „Sie schlafen ja unentwegt.“
„Nach Wien“, antwortet Simon. „Und du?“
Luipold kichert. „Wir fahren doch alle nach Wien.“
„Ach ja?“
„Nun ja“, mischt sich jetzt die Begleiterin des Jungen ein. „Unsere Postkutsche wird doch heute Abend Wien erreichen.“
Simon wird auf einmal bewusst, dass er sich seinen Reisebegleitern noch gar nicht vorgestellt und diese kaum wahrgenommen hat. „Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorstellt. Mein Name ist Simon Brown; ich komme aus Mainz und fahre über Wien nach Triest.“
„Wir dachten schon, Ihnen wäre etwas auf die Stimme und auf die Stimmung geschlagen“, bemerkt die Dame mit einem amüsierten Lächeln und nickt Simon zu. „Jacoba Velten, angenehm. Der junge Mann neben mir ist mein Neffe Luipold van Rütten und ich bin zurzeit als seine Gouvernante tätig. Luipold ist der Sohn meiner Schwester Isolde; die Familie lebt in München. Wir reisen übrigens seit Passau zusammen, Herr Brown.“
„Seit Passau?“ Simon ist fassungslos.
„Wir auch, Herr Brown“, schaltet sich der links neben Simon sitzende glatzköpfige Herr mit einem formvollendet frisierten Schnurrbart ins Gespräch ein. „Ich darf mich vorstellen: Arnold Plönfeld. Ich stamme aus Schleißheim, bin Maler von Beruf und nehme für zwei Porträtbilder die beschwerliche Reise nach Wien auf mich.“
„Gestatten, Hetti Sauermann“, lächelt eine rothaarige Dame zu Simon herüber. Sie trägt einen schlichten weißen Hut und tastet ein wenig verlegen nach ihrem rechten Ohrring. Ich bin Hauswirtschafterin und begebe mich zu einer neuen Anstellung im Haushalt von Hofrat Franz-Josef Oberstätten in Wien.“
„Sie können sich freuen, gnädige Frau“, lächelt der rechts neben Luipold sitzende Herr. „Wien ist eine wunderbare Stadt. Oskar Vollrath mein Name; ich stamme auch aus München und besuche meinen Wiener Onkel Sepp. Er liegt im Sterben und möchte mich noch einmal sehen. Er hat einiges zu vererben, da wäre es wohl kaum ratsam, sein Ansinnen zu ignorieren. Wer weiß, vielleicht fällt ja etwas für mich ab.“ Grinsend kratzt sich der wohlbeleibte Herr mit seinen fleischigen Fingern an seinem ausladenden Doppelkinn.
Die Vorstellungsrunde hat die Reisenden offenbar in Plauderlaune versetzt. Interessiert wendet sich Arnold Plönfeld an Jacoba Velten: „Kommen Sie auch aus München, meine Liebe?“
„Nein, nein“, erwidert diese. „Ich stamme aus Lüttich, bin aber in Großpöhla verheiratet.“
Plönfeld zeigt sich erstaunt. „Das müssen Sie nun aber aufklären, Frau Velten. Großpöhla liegt doch in Sachsen und Lüttich im heutigen Belgien.“
„… und Sie möchten nun wissen, wie es mich so weit von meiner Heimat verschlagen hat?“
„Ich möchte nicht indiskret sein …“, murmelt Plönfeld nur halb verlegen.
„Nun ja, mein Ehemann hat Ingenieurwesen in Dresden studiert und arbeitet im Bergwerk Neu-Silberhoffnung ganz in der Nähe von Großpöhla. Aus beruflichen Gründen war er vor vielen Jahren für einige Monate in Lüttich, das ja auch für Bergbau bekannt ist. Dort wurden wir einander auf einer privaten Feier vorgestellt … und wie die Liebe manchmal so spielt, bin ich ihm nach Großpöhla gefolgt.“
„Aber gnädige Frau“, meint Oskar Vollrath verschmitzt, „eine Dame wie Sie in der Provinz? Das kann Sie doch nicht zufriedenstellen! Eine Dame mit Ihrer Grazie und Eleganz, die will sich doch in der Gesellschaft bewegen und die neueste Mode ausführen.“
„Sie schmeicheln mir, Herr Vollrath“, lächelt Jacoba Velten. „Doch ich habe mich in der Tat gut in der Provinz eingelebt. Und derzeit kann ich ja das gesellschaftliche Leben in München genießen.“
„Tante, was bedeutet schmeicheln?“, mischt sich nun der Bub ein. „Du hast dem Mann gesagt, dass er dir schmeichelt.“
Jacoba Velten ist zunächst sprachlos, schließlich erklärt sie: „Er hat mich gelobt, könnte man sagen.“
„Wofür hat er dich denn gelobt, du hast doch nichts getan?“
„Wie soll ich dir das erklären?“ Die Gouvernante wirkt nun wirklich ratlos.
Simon zwinkert Luipold zu und fragt ihn: „Weißt du, was es bedeutet, wenn dir jemand Honig um den Bart schmiert?“
„Ja, natürlich, wenn mich jemand lobt, aber eigentlich etwas von mir will … Sie meinen, der Mann hat Tante Jacoba Honig um den Bart geschmiert?“
Daraufhin müssen alle Mitreisenden lachen.
„Zu dick aufgetragen?“, will Oskar Vollrath nun doch etwas beschämt wissen.
„So könnte man es sagen, Herr Vollrath“, mischt sich die etwas jüngere Hetti Sauermann süffisant ein. „Aber Herr Brown“, wendet sie sich an Simon, „von Ihnen haben wir noch gar nichts gehört.“
„Nun, ich bin in Mainz als Winzersohn geboren und aufgewachsen. Mit siebzehn Jahren wanderte ich nach Amerika aus, und mittlerweile segele ich auf einem Handelsschiff, das sich derzeit auf dem Weg nach Indien befindet – leider ohne mich, da ich meine Familie in Mainz besucht habe.“ Vor seinem inneren Auge sieht Simon plötzlich zwei Särge vor sich stehen und langsam nacheinander in der nassen, schwarzen Erde verschwinden. Er senkt den Blick, um sich zu sammeln, und sieht dann wieder auf. „Jetzt reise ich nach Triest, um von dort aus über das Mittelmeer nach Ägypten zu gelangen. Danach geht es quer durch die Wüste und anschließend mit einem Schiff weiter nach Indien. In Bombay hoffe ich mein Schiff, die ‚Ocean Dream‘, einholen zu können.“
„Da kommen Sie aber ganz schön herum“, stellt Oskar Vollrath fest. „Sie sollten auf gutes Schuhwerk achten, Herr Brown.“
Plötzlich starren alle Kutscheninsassen auf Simons schwarze Stiefel, sodass auch er sich genötigt sieht, einen kritischen Blick zu riskieren. „Könnten vielleicht wieder einmal geputzt werden“, murmelt er verlegen.
„Lederpflege, Lederpflege, Lederpflege“, erklärt Vollrath, „Hält man das Leder sauber und geschmeidig, so ist der Schuh relativ wasserdicht und wird nicht so schnell brüchig. Ich verstehe etwas davon, ich bin Schuhmacher.“
Verwundert runzelt Luipold die Stirn: „Warum soll Herr Brown besonders auf seine Schuhe achtgeben? Er läuft doch gar nicht zu Fuß, sondern fährt mit dem Schiff oder der Kutsche …“
„Wo er Recht hat …“, schmunzelt Arnold Plönfeld, der Maler.
Und Vollrath ergänzt anerkennend: „Helles Bürschchen!“
„Luipold, sei nicht so vorlaut!“, ermahnt Jacoba Velten ihren Neffen.
„Ich verbringe in der Tat viel Zeit auf dem Schiff“, wirft Simon nun ein. „Allerdings lege ich auch weite Strecken zu Fuß oder auf dem Pferd zurück.“ Er nickt dem Schuhmacher freundlich zu. „Ich verspreche, wenn wir in Wien sind, werde ich für meine Stiefel Sorge tragen.“

„Fast fünf“, bemerkt Oskar Vollrath mit einem Blick auf seine Taschenuhr. Einer der Kutscher stellt ihm seine beiden Koffer vor die Füße, und er bedankt sich, indem er seinen Hut kurz anhebt. Simon schultert seinen Seesack und schaut sich dabei um, wobei in der Dunkelheit nicht viel zu erkennen ist. Die anderen Reisenden haben sich bereits an der Haltestelle in der Nähe des Wiener Josephsplatzes verabschiedet. Vollrath hatte Simon bedeutet, dass es für ihn günstiger wäre, sich mit ihm gemeinsam noch bis zum Getreidemarkt bringen zu lassen.
„Tja, da sind wir jetzt also, Herr Brown“, meint Vollrath jovial. „Die beiden letzten Passagiere einer so anstrengenden Kutschfahrt.“
„Und Sie sind sich sicher, dass wir hier richtig sind?“
„Ja, ich hatte die Kutscher gebeten, uns an der Laimgrube abzusetzen, wenn es ihnen keine Mühe machen würde.“
„Und?“
„Das ist die Laimgrube“, erklärt Oskar Vollrath, holt eine Zigarre nebst Streichhölzern aus seinem Mantel, zündet sie an und pafft zweimal kräftig. „Machen Sie sich keine Sorgen, hier kenne mich ganz ordentlich aus.“
„Das ist beruhigend zu wissen“, meint Simon, der allein gar nicht wüsste, wohin er sich wenden soll.
„Hören Sie mal, Brown, Sie müssen nach Triest und ich morgen zu meinem Onkel. Wenn wir ein Stück in diese Richtung gehen“ – er zeigt mit dem Arm die Straße hinunter – „die Mariahilfer Hauptstraße entlang, werden wir auf der rechten Seite das Gästehaus der Familie Pichler finden. Von dort ist es für Sie nicht weit bis zur nächsten Poststation.“
„Das hört sich nach einem Plan an.“ Simon ist froh, einen Begleiter zu haben, der sich auskennt. Noch immer fühlt er die Erschöpfung der letzten Tage.
„Ganz nebenbei gefragt, Brown: Sie tragen Ihren Seesack wie einen Rucksack auf dem Rücken?“
„Ja, da hat man beide Hände frei.“
„Das sehe ich ein, das spricht eindeutig für den Seesack. Ach, übrigens, Sie könnten einen meiner Koffer tragen, Sie haben ja schließlich beide Hände frei.“ Grinsend schnappt sich der Schuhmacher den größeren seiner beiden Koffer und setzt sich auch schon in Bewegung. Kopfschüttelnd greift Simon nach dem anderen und folgt dem Münchener auf den Fersen. Kaum zehn Minuten später betreten sie das Gästehaus Pichler, ein mehrstöckiges Stadthaus in einer ganzen Reihe sehr ähnlich aussehender Häuser auf beiden Seiten der Straße. Einzig die dicken dunkelgrünen Buchstaben über der Eingangstür geben einen Hinweis auf die andere Nutzung dieses Hauses.
Die Wirtin Marianne Pichler ist eine freundliche Frau mittleren Alters und erzählt Simon, dass sie das Gästehaus zusammen mit ihrem Gatten und ihrer Tochter Emilia betreibt. Bevor sich die beiden Männer auf ihre Zimmer verabschieden, bestimmt Oskar Vollrath: „Herr Brown, um sieben Uhr treffen wir uns vor der Eingangstür, und dann nehme ich Sie mit in eines der angesagtesten Etablissements der Stadt.“
„Etablissement …?“, fragt Simon skeptisch.
„Klar doch! Wir müssen etwas essen und ein bisschen Spaß ist wohl nicht verboten.“
Zögerlich stimmt Simon zu.
Als er um sieben vor die Tür des Gästehauses tritt, wartet der Schuhmacher bereits auf ihn und stellt beim Blick auf Simons Stiefel zufrieden fest: „Sie haben sich um Ihre Stiefel gekümmert, das ist gut.“ Er streckt Simon die Hand entgegen. „Übrigens, ich schlage vor, dass wir uns mit Vornamen ansprechen. Ich bin Oskar.“
„Simon“, erwidert der Amerikaner mit einem Kopfnicken.
„Na, dann wollen wir mal.“ Vollrath setzt sich schon in Bewegung, die Mariahilfer Hauptstraße entlang. „Wir begeben uns von hier aus zum ‚Blauen Bock‘.“
Auf dem Weg schwärmt der Schuhmacher von den Biergärten seiner Heimatstadt. Mit der Zeit sind die beiden Männer so ins Gespräch vertieft, dass sie fast schon am „Blauen Bock“ vorbei sind, als Simon bemerkt: „Oskar, wir sind da … Endlich bekommen wir etwas in den Magen!“
„Nein, Simon, nicht im ‚Blauen Bock‘“, lacht Vollrath. „Wir warten auf den Hietzinger Gesellschaftswagen, der müsste eigentlich jeden Moment eintreffen.“
„Und wohin fahren wir mit dem Wagen?“
„Nach Hietzing, habe ich doch gesagt. Das ist ein Wiener Vorort.“ Oskar stupst Simon an der Schulter an und ergänzt: „Du wirst es aushalten, es lohnt sich.“
„Wie nennt sich denn das Lokal in Hietzing?“
„‚Dommayer’s‘. Ach, da kommt er schon!“
Die Straße hinunter kommt ein von zwei Pferden gezogener bedachter Anhänger, der zum Personentransport bestimmt und mit Sitzplätzen ausgestattet ist. An der Seite steht in großen Buchstaben geschrieben: „Jeder Tag hat seine Plagen, Liesinger Bier schafft Wohlbehagen.“ Kaum hält der Gesellschaftswagen vor dem „Blauen Bock“, zahlt Oskar das Fahrtgeld und überzeugt sich davon, dass es wirklich nach Hietzing geht. Als sie sich auf einer der Holzbänke niederlassen, stellt der Schuhmacher begeistert fest: „Tolle Sache, diese Gesellschaftswagen! Die Linien verbinden mittlerweile alle wichtigen Orte der Stadt.“
„Ich bin beeindruckt, ausgesprochen modern. Wie heißt noch mal das Lokal?“
„‚Dommayer’s Casino‘.“ Vollrath beugt sich zu Simons Ohr und raunt: „Schau dir nur die hübschen Damen an, die mit uns reisen. Was glaubst du, wohin die wollen und warum die sich so herausgeputzt haben?“
Vorsichtig riskiert Simon einen Blick in die Runde und stellt leise fest: „Stimmt, aber die scheinen alle in Herrenbegleitung zu sein.“
„Das ist ein Grund, aber doch kein Hindernis“, meint Oskar augenzwinkernd.
Simon ist nicht ganz wohl. Er will in keinen Ärger hineingeraten und eigentlich einfach nur etwas essen und trinken. „Warst du schon einmal dort?“
„Nein, das nicht, aber …“ Oskar Vollrath öffnet ein paar Knöpfe seines Mantels und holt eine gefaltete Zeitung aus der Innentasche.
„Schau einmal, die ‚Wiener Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt‘ vom Sonnabend, dem 28. Juni 1834, lag in meinem Zimmer auf dem Tisch. Hier steht geschrieben …“
„Oskar, das ist ja eine ganz alte Zeitung!“
„Jetzt hör doch erst einmal zu! Vorgestern erfreuten sich die Bewohner Wiens eines der schönsten Feste, dergleichen seit Jahren hier und in den Umgebungen begangen wurden; der unvergleichliche Strauß veranstaltete nemlich in Domayer‘s Casino in Hietzing die … Garten- und Salonfeier unter dem Titel: ‚Nächtliches Sonnenfest‘ … durch eine goldene, durch unzählige Flammen beleuchtete Sonne, durch eine glänzende, überaus splendide Beleuchtung wurde die Nacht in den hellsten Tag und die wunderschönen Säle in einen wahren Feenpalast aus ‚Tausend und einer Nacht‘ verwandelt. Das überaus gewählte, im schönsten Frühlingsputze versammelte Publikum, aus welchem viele schöne Damen ebenfalls wie Sonnen strahlten, war so reich herbeigeströmt …“
„Entschuldige Oskar, du musst nicht weiterlesen“, unterbricht ihn Simon schmunzelnd. „Hättest du mir den Artikel im Gästehaus vorgelesen, wäre ich wahrscheinlich nicht mitgekommen, aber da wir jetzt unterwegs sind, ist das schon in Ordnung. Schauen wir mal, in was für eine Art von Trubel wir da hineingeraten.“
Einige Zeit später fährt der Gesellschaftswagen am Schloss Schönbrunn vorüber. Das Schloss und der Schlossplatz sind allerdings nur spärlich beleuchtet; so kann Simon den Prunk und das Ausmaß der Anlage nur erahnen.
„Schade, dass es so früh dunkel wird. Man kann kaum etwas erkennen“, stellt Oskar enttäuscht fest. „Aber jetzt kann es nicht mehr weit sein … ‚Dommayer‘s Casino‘ soll sich direkt gegenüber dem Schönbrunner Kaiserstöckel befinden.“
Als der Gesellschaftswagen vor einem großen Gebäude zum Stehen kommt, wundert sich Simon, dass alle Passagiere den Wagen verlassen. Sie scheinen alle dasselbe Ziel zu haben. Simon hält Oskar am Arm zurück. „Lassen wir den anderen den Vortritt; wir haben es nicht eilig.“ Schließlich durchschreiten sie die große Eingangstür und kommen in einen großzügigen, eleganten Empfangsbereich, der links durch bodentiefe Glastüren und Fenster den Blick auf eine beleuchtete Terrasse freigibt. Nach rechts führt eine Tür in die Gaststube, und im hinteren Bereich befinden sich breite Türen, die wohl zu den Festsälen führen.
„Wir wollen zunächst etwas essen, bevor wir uns ins Getümmel stürzen“, meint Oskar. Er wirkt sichtlich fasziniert von dem Etablissement.
„Gerne“, antwortet Simon knapp und zieht auch schon die Tür zur Gaststube auf. Dort ist eine größere Anzahl von Tischen bereits besetzt.
„Guten Abend, möchten Sie zu Abend essen?“, werden sie von einem Keller in schwarzer Livree angesprochen.
„Ja, gerne“, antwortet Simon.
„Dann nehmen Sie doch Platz.“ Der Kellner macht sie auf einen freien Tisch in ihrer Nähe aufmerksam. „Ich hole Ihnen die Karten.“
Nach kurzem Studium des Menüs bestellen Simon und Oskar beide den Tafelspitz in Meerrettichsauce, Kartoffeln mit Gemüse und dazu eine Flasche Blaufränkisch. Obwohl die Gaststube gut besucht ist, kommt das Essen schon nach nicht einmal zwanzig Minuten. Simon staunt. „Das ging aber fix.“
„Da es sich beim Tafelspitz um eine Tagesempfehlung handelt, sind wir vorbereitet“, erklärt der Kellner, deckt die Teller ein und holt die Flasche Wein mit zwei Gläsern von der Theke. Bevor er die Flasche öffnet, weist er Vollrath auf das Etikett hin, woraufhin der fragend aufschaut. „Ich hatte doch Blaufränkisch bestellt …“
„Das ist ein Blaufränkisch“, beharrt der Keller. „Diesen Wein servieren wir immer, wenn Blaufränkisch bestellt wird, und er wird sehr gerne genommen.“
„Das mag sein.“ Vollrath wirkt ein wenig echauffiert. „Wir bestehen allerdings auf einem Blaufränkisch.“
„Dürfte ich die Flasche einmal sehen?“, wendet sich Simon an den Kellner.
„Ja, natürlich.“
Simon betrachtet das Etikett und beruhigt: „Oskar, das ist ein Kékfrankos; so nennt sich der Blaufränkisch in Ungarn. Dieser hier stammt sogar aus dem Teufelsgraben; das liegt im Weinbaugebiet Villány bei Siklós. Da bin ich gespannt, wie er schmeckt.“
Der Kellner nimmt das zustimmende Nicken Vollraths erleichtert zur Kenntnis und öffnet die Flasche, gießt allerdings in seiner Aufregung versehentlich Simon den ersten Schluck ins Glas. „Entschuldigen Sie, Sie hatten ja gar nicht bestellt!“
„Kein Problem. Wir können die Gläser einfach tauschen.“ Simon bietet Oskar sein Glas an, der allerdings durch Kopfschütteln signalisiert, dass er ihm den Vortritt lässt. So probiert Simon den Wein und stellt begeistert fest: „Hervorragender Blaufränkisch! Kein Wunder, dass er so eine Zustimmung findet.“
Jetzt probiert auch Oskar und zeigt sich zufrieden: „Ja, der ist wirklich ausgezeichnet!“
„Wunderbar“, meint Simon. „Diese lebendige Säure und die deutliche Frucht von satten, reifen dunklen Waldbeeren! Dazu die sanften, angenehmen Tannine. Da spürt man die südliche Lage des Weinberges und die warmen Sonnenstrahlen im Teufelsgraben, nicht wahr?“
„Dir kann man wohl nichts vormachen, was?“, meint Oskar verwundert. „Du hast zwar erzählt, dass du auf einem Weingut aufgewachsen bist und mit Überseehandel dein Geld verdienst, aber dass du so ein Experte bist, davon hatte ich keine Ahnung.“
„Meine Verwandtschaft in London betreibt ein Wein- & Spirituosengeschäft.“
„Aha, daher diese …“
„Darf ich Sie stören, meine Herren?“ Oskar wird von einem elegant gekleideten Herrn mit gescheiteltem schwarzem Haar unterbrochen. „Ferdinand Dommayer … Sie sind zufrieden?“
„Ja, ausgezeichneter Service, sehr gutes Essen und ein herrlicher Rotwein“, versichert Oskar Vollrath.
„Auch wenn der Name Blaufränkisch fehlt?“, fragt Dommayer verschmitzt.
„Mein Fehler“, entschuldigt sich Oskar. „Ich bin leider nicht so ein guter Weinkenner wie mein Begleiter hier. Dommayer, sagten Sie? Dann sind Sie der Inhaber? Respekt.“
„Ja, so ist es“, bestätigt der Herr. „Ich hatte die Sache mit dem Wein von der Theke aus mitbekommen. Also, Sie stammen aus dem Münchener Raum, wie ich höre. Und Sie?“, wendet sich Dommayer an Simon.
„Ich bin in Mainz aufgewachsen und vor einigen Jahren nach Boston in Amerika ausgewandert.“
„Amerika? Da hört man ja tolle Sachen … “
„Leisten Sie uns doch ein wenig Gesellschaft, Herr Dommayer“, fordert Oskar den Inhaber auf.
„Wenn es genehm ist?“
„Ja, gerne“, bestätigt Simon.
„Arthur, bringen Sie uns noch eine Flasche vom Kékfrancos?“
Schon steht der Kellner am Tisch und stellt eine weitere Flasche und neue Gläser auf der weißen Decke ab.
„Jetzt erklären Sie mir aber bitte, wie Sie auf das ‚Dommayer’sche Casino‘ kommen? Uns kennt man in Wien und Umgebung, aber darüber hinaus?“
Oskar Vollrath erhebt sich von seinem Platz, geht zum Kleiderständer und kommt mit der Theaterzeitung zurück, aus der er Simon bereits vorgelesen hatte. „In der ‚Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt‘ vom Juni 1834 ist ein ansprechender Artikel über Ihr Casino zu finden.“
„Den kenne ich natürlich“, nickt Dommayer. „Hätte aber nicht gedacht, dass ein Münchener an diese Zeitung kommt.“
„Purer Zufall, die lag auf meinem Zimmer im Gästehaus.“
„Ferdinand?“, ruft in diesem Moment eine dunkle Männerstimme von der Theke her.
Dommayer schaut auf. „Ah, Johann! Setz dich doch einen Augenblick zu uns.“
Der Herr kommt zu ihnen hinüber. Er ist großgewachsen und schlank und hat erstaunlich volles, welliges, fast schwarzes Haar. Simon schätzt, dass er sich etwa im selben Alter wie Ferdinand Dommayer befindet.
„Johann, darf ich vorstellen: Oskar Vollrath aus München und Simon Brown aus Boston. Wenn du nicht gleich wieder auf die Bühne musst, leiste uns doch ein wenig Gesellschaft.“
„Wir machen gerade eine Pause.“
„Dann trinke ein Gläschen Kékfrancos mit uns. Meine Herren, das hier ist unser heutiger Kapellmeister, der die Gäste im großen Saal in Schwung bringt: Johann Strauss.“
„Guten Abend, Herr Strauss“, begrüßt Oskar den Kapellmeister begeistert. „Ich freue mich auf die Darbietung Ihres Orchesters. Ich bin ein ausgesprochen leidenschaftlicher Tänzer … sehr zur Freude meiner Gattin.“
Der Kapellmeister nickt höflich und Dommayer wendet sich an Simon: „Und Sie, Herr Brown?“
„Ich bin nicht verheiratet, wenn Sie das meinen“, beeilt sich Simon zu ergänzen. „Auch bin ich kein guter Tänzer. Ich fühle mich auf einem Schiffsdeck sehr viel wohler als auf einer Tanzfläche.“
„Das kann man lernen“, meint Dommayer eifrig. „Seit mein Freund Johann hier und der Josef Lanner bei uns ihre Kompositionen aufführen, geht die Post ab. Übrigens, wenn Sie morgen noch in Wien sind, sollten Sie sich unsere Ballnacht nicht entgehen lassen. Johann wird mit seinem wackeren Orchester die neuesten und beschwingendsten Kompositionen zum Besten geben.“
Einige Minuten später erhebt sich Johann Strauss vom Tisch. „Entschuldigen Sie, die Herren, es wird Zeit, dass das Orchester wieder aufspielt. Wir wollen den Schwung nicht verlieren.“
„Selbstverständlich“, erwidert Oskar. „Wir kommen auch gleich und legen eine flotte Sohle aufs Parkett.“
„Habe die Ehre“, nickt der Kapellmeister und verabschiedet sich.
Kurze Zeit später dringen gedämpfte Walzerklänge in die Gaststube, und den Münchener hält es sichtlich kaum noch auf seinem Stuhl.
Simon muss schmunzeln. „Herr Dommayer, Sie haben einen tollen Betrieb auf die Beine gestellt. Ich denke, wir sollten die Gläser leeren und uns auf den Weg in den Tanzsaal machen. Mein Freund Vollrath ist kaum noch zu bremsen.“
„Ja ja“, nickt der Wiener, „die Walzermusik ist nicht bei nur uns in Wien beliebt. Spannen wir also den Tänzer nicht länger auf die Folter. Hat mich sehr gefreut, Sie beide kennengelernt zu haben.“
Nachdem Simon die Rechnung beglichen hat, hat er Mühe, dem Schuhmacher auf den Fersen zu bleiben. Der weite, hohe Ballsaal mit seinen großen Spiegeln und den Lüstern an der Decke macht einen imposanten Eindruck auf ihn. Alle im Festsaal verteilten Tische sind bis auf den letzten Platz besetzt. Auch neben der Tanzfläche, auf der sich die Tänzer und Tänzerinnen schwungvoll im Takt der Walzermusik bewegen, stehen unzählige Gäste in kleinen Gruppen. Noch bevor Oskar in der Menschenmenge verschwinden kann, hält Simon ihn am Jackenärmel fest und teilt ihm mit, dass er sich am Rand aufhalten und das bunte Treiben von dort aus betrachten werde. Bequem an eine der wuchtigen Säulen gelehnt, lässt Simon seinen Blick durch den Saal schweifen. Auf der weitläufigen Bühne gibt Johann Strauss, mit dem Rücken zum Publikum, den Takt an. Mit Blick auf die Tanzenden wird Simon allmählich klar, warum die Veranstaltung auf ihn einen so mondänen Eindruck macht: Eine recht große Anzahl an Militärangehörigen glänzt mit prächtigen, bunten Uniformen im Saal. Die Stimmung ist ausgelassen und die meisten der tanzenden Paare geben ein angenehmes Bild ab, da sie etwas vom Walzertanzen zu verstehen scheinen; in fließenden Bewegungen drehen sie sich im Takt der Musik.
Beim nächsten Walzer tanzt auf einmal Oskar nur einige Meter an Simon vorbei, eine hübsche jüngere Dame im Arm führend, und zwinkert seinem neuen Bekannten zu. Simon muss zugeben, dass Oskar wirklich ausgezeichnet tanzt. Ein bisschen Wehmut macht sich in ihm breit: Wie schön wäre es, mit Marala irgendwann genauso elegant über das Tanzparkett schweben zu können! Simon seufzt. Wo mag sich Marala wohl gerade befinden? Was macht sie gerade, wie geht es ihr – während er hier herumsteht?
Recht schnell nimmt Johann Strauss‘ Walzermusik Simon wieder für sich ein und er staunt, in was für eine euphorische Stimmung sie die Menschen im Saal versetzt. Wieder tanzt Oskar ausgelassen quer über das Parkett, erneut eine andere Dame eng im Arm führend. Als das Paar näher an Simon vorbeitanzt, sticht ihm die Noblesse und Eleganz der Dame ins Auge. Ihre toupierten hellroten Haare und die noble Blässe ihrer Haut bilden einen attraktiven Gegensatz zu ihren strahlend blauen Augen und dem kostbaren, rosafarbenen Stoff ihres Kleides. Um den Hals trägt die Dame ein feingliedriges, hochwertiges Collier, das einen Hinweis auf ihren gesellschaftlichen Status gibt. Schon ist das Paar wieder in der Menge verschwunden.
Kurz darauf zieht eine Unruhe am anderen Ende der Tanzfläche Simons Aufmerksamkeit auf sich. Eine größere Menschentraube hat sich dort versammelt, darunter viele Uniformträger, und schiebt sich langsam durch eine doppelflügelige Tür in einen separaten, kleineren Saal. Simon misst dem Ganzen keine große Bedeutung zu und wendet sich wieder ab, um seinen Freund in der Menge zu suchen. Aber Oskar ist auf der Tanzfläche nirgends zu sehen. Eine dunkle Ahnung kommt in Simon auf und er setzt sich unverzüglich in Bewegung. Der Durchgang zum anderen Saal ist von Menschen verstopft. Um hineinzugelangen, muss er sich richtiggehend durch den Türrahmen schieben. Aus dem Saal vernimmt Simon eine kräftige, dunkle Männerstimme, die wütend und anklagend klingt. Erst jetzt wird Simon bewusst, dass es sich bei den Anwesenden hauptsächlich um Männer handelt. Sie stehen so dicht zusammen, dass Simon unmöglich einen Blick auf die Akteure werfen kann. Doch dann hört er Oskars klägliche Stimme: „Ich habe doch nur mit ihr getanzt!“ Mit Mühe drängt sich Simon in die Mitte des Kreises, wo der Schuhmacher von zwei Offizieren festgehalten wird. Ein weiterer, offensichtlich hochrangiger Offizier hat sich mit bedrohlicher Gebärde vor Oskar aufgebaut. „Jetzt sagen Sie schon: Wer sind Sie? Mit wem haben wir es zu tun?“
„Ich … aua!“ Einer der beiden Offiziere, die den Schuhmacher festhalten, hat seinen festen Griff noch verstärkt. „Ich bin Oskar Vollrath, selbstständiger Schuhmacher aus München … Aua! Und wer sind Sie?“
Der zweite der Offiziere, die Oskar festhalten, erklärt unwirsch: „Das ist Graf Stanislaw von Serecki, Oberstleutnant im 5. k. u. k. Dragoner-Regiment … Man sollte schon wissen, mit wem man sich anlegt!“
„Ich habe doch gar nichts getan!“, protestiert der Münchener kleinlaut.
„Soso – und was wollen Sie von der Dame?“, will jetzt Graf von Serecki wissen und packt Oskar unsanft an der Schulter.
„Tanzen, wir haben doch nur getanzt. Sie tun mir weh!“
„Mein Adjutant hat Sie beobachtet“, stößt der Graf aufgebracht hervor. „Sie haben den Abend über mehr als siebenmal mit ihr getanzt, haben mit ihr Champagner getrunken und saßen länger mit ihr an einem separierten Tisch. Also noch mal: Was wollen Sie von der Dame?“
„Au!“, stöhnt Oskar mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Nichts. Ich habe wirklich nur mit ihr getanzt.“
Simon sucht die Gesichter der Anwesenden ab, aber er kann die aparte Rothaarige nicht finden, die Oskars Erklärungen bestätigen könnte. So sieht er sich gezwungen, Oskar beizustehen, und stellt sich beherzt neben den Schuhmacher.
„Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische. Mein Name ist Simon Brown und ich reise mit Herrn Vollrath. Ich denke nicht, dass sie etwas von ihm zu befürchten haben; er tanzt nun einmal ausgesprochen gerne und deshalb auch sehr viel.“
„Mischen Sie sich nicht in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen“, blafft Graf von Serecki zurück.
„Aber was wollen Sie ihm denn unterstellen?“, versucht Simon den Grafen zu beschwichtigen. „Wir sind ja erst heute mit der Postkutsche in Wien angekommen. Das ergibt doch keinen Sinn … Dieser Aufstand für ein paar Tanzrunden.“
„Ja“, stößt Oskar zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, „ich bin doch kein Spion!“ Bei diesem Wort reißen mehrere der anwesenden Offiziere ihre Augen auf. So auch Graf von Serecki, der automatisch den Griff an Oskars Schulter verstärkt. „Wie kommen Sie darauf, dass wir einen Spion suchen? Spielen Sie nicht den Unschuldigen! Ein Spion … für den bayerischen König etwa?“
„Nein, natürlich nicht … Ich sagte doch schon, ich bin Schuhmacher.“
„Darf ich etwas vorschlagen?“, mischt sich Simon jetzt wieder ein. „Ich sorge dafür, dass mein Begleiter hier sich am Tisch wieder beruhigt. Wir werden noch einen Schluck Wein trinken, danach gemeinsam aufbrechen und Sie werden uns nie wiedersehen.“
Ein anderer Offizier tritt neben von Serecki und flüstert ihm etwas ins Ohr, worauf der Graf seinem Gegenüber noch einmal in die Augen starrt und dann nach einer gefühlten Ewigkeit endlich von ihm ablässt.
„Lasst ihn los, wir haben zurzeit nichts gegen ihn in der Hand“, weist er seine Männer an und ergänzt, während er sich abwendet: „Wir werden eine Lösung finden.“
Simon fasst den kreidebleichen Oskar, dessen Anspannung sich langsam löst, unter und führt ihn in Richtung Ausgang. An einer der letzten Säulen im Saal gönnt er seinem Begleiter noch eine kleine Verschnaufpause. „Atme erst einmal tief durch. Es ist ja alles gut gegangen.“
Unauffällig lässt Simon seine Augen durch den Saal wandern. Rechts neben der Tanzfläche, vor einem älteren Ehepaar, erkennt er die hübsche Rothaarige, die mit eiskaltem Blick auf den durch den Saal schreitenden Grafen von Serecki schaut. Ihre Unterlippe vibriert unablässig und ihre Brust hebt und senkt sich heftig. Diese Beobachtung macht Simon nachdenklich. „Oskar, kennst du eigentlich den Namen deiner Tänzerin?“
„Sie wurde mir als Marie-Ann vorgestellt“, erinnert sich der Schuhmacher kleinlaut.
Simon und Oskar begeben sich zurück in die Gaststube und verarbeiten bei einer Flasche Kékfrankos die missliche Situation.
„Spion“, murmelt Vollrath vor sich hin, „ich ein Spion? Wie kommen die nur darauf?“
„Keine Ahnung. Das Ganze ist schon eine sehr merkwürdige Geschichte.“ Simon überlegt. „Ihr habt doch zusammen an diesem Tisch gesessen. Habt ihr vielleicht über etwas Bestimmtes gesprochen?“
„Sie hat mir von Wien vorgeschwärmt, von den entspannten Plauderstündchen in feiner Gesellschaft bei türkischem Kaffee und exquisiten Torten und von den aufregenden Ballnächten bei Walzermusik und Tanz, wie heute hier im ‚Dommayer‘s‘. Diese Marie-Ann ist eine kurzweilige Unterhalterin und exzellente Geschichtenerzählerin, aber wenn ich so darüber nachdenke, hat sie von sich selbst nichts preisgegeben.“
„Was für eine Rolle spielt sie wohl?“, murmelt Simon nachdenklich. „Und du kennst nicht einmal ihren vollständigen Namen.“
In diesem Moment tritt ein älterer Herr zu ihnen an den Tisch und spricht Oskar so leise an, dass er und Simon sich anstrengen müssen, ihn zu verstehen: „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe. Sind Sie nicht derjenige, der den halben Abend mit der Bárónő Marie-Ann von Nagy getanzt hat?“
„Baronin von Nagy“, wiederholt Oskar erstaunt. „So heißt die Rothaarige also … Sie liegt einem wunderbar im Arm und hat ein großartiges Taktgefühl …“
„Psst!“ Der Mann legt den linken Zeigefinger auf seinen Mund. „Die Wände hier könnten Ohren haben. Gestatten, Baumgartner, Anton Baumgartner.“
„Nehmen Sie doch bitte Platz“, lädt Simon den Herrn ein, „und trinken Sie ein Gläschen mit uns. Sie machen es spannend.“ Simon nimmt ein sauberes Weinglas vom Tisch, stellt es vor dem älteren Herrn ab und schenkt ihm ein, während der sich setzt, sich leicht nach vorne beugt und flüstert: „Ich möchte Sie vor Schaden bewahren. Graf Stanislaw von Serecki ist nicht zu unterschätzen, und die Gräfin agiert … Wie soll ich es sagen? … sehr berechnend; andere würden vielleicht von durchtrieben sprechen. Möglicherweise haben Sie sich in Gefahr gebracht.“
„Ich, in Gefahr?“ Jetzt schaut der Münchener erschrocken drein. „Ich habe doch nur mit der Gräfin getanzt.“
„Psst“, mahnt ihn der Mann ein weiteres Mal zur Ruhe.
„Hören wir doch erst einmal, was er zu sagen hat“, meint Simon zu seinem Begleiter.
„Nun, Graf von Serecki stammt aus Ungarn; er ist Oberstleutnant im 5. Dragoner-Regiment und daneben politisch sehr aktiv. So auch auf dem Wiener Kongress vor etwa zwanzig Jahren, als die wichtigsten Personen Europas bei uns in Wien zu Gast waren. Als Drahtzieher im Hintergrund setzte er seine wirkungsvollste Waffe ein, um hohe Regierungsbeamte, Aristokraten und Diplomaten zu beeinflussen. Dabei spielten ihre vielen Talente ihm schlagende Argumente in die Hände, die es ihm ermöglichten, ein recht großes Vermögen anzuhäufen.“
„Seine wirkungsvollste Waffe?“ Oskar Vollrath macht eine verständnislose Miene.
„Seine Mätresse, die damals blutjunge, wunderschöne Baronin Marie-Ann von Nagy, die immer schon eine ausgesprochen große Anziehungskraft auf Männer ausübte und ihm so sehr nützlich war. Sie verstehen, was ich meine. Die Baronin stand der ungarischen Gräfin Julie Zichy außergewöhnlich nahe; manche sprechen von einer Freundschaft auf Lebenszeit. Die Zichy wiederum war bestens bekannt mit der schlesischen Herzogin Wilhelmine von Sagan, die ihrerseits mit der Fürstin Katharina Bagration Kontakt pflegte.“
„Das klingt sehr interessant, mein Herr“, wirft Simon etwas ungeduldig ein, „aber ich verstehe nicht, was das mit uns zu tun hat oder mit Oskars Tanzeinlagen?“
„Nun, man sagt, Fürstin Katharina hätte unzählige Affären gehabt, unter anderem mit dem Zaren von Russland und dem Fürsten von Metternich. Mit dem österreichischen Staatskanzler hat sie übrigens eine Tochter, die auf dem Namen Clementine hört. Aber auch Herzogin Wilhelmine hatte beizeiten in Metternichs Bett den Kongress vorbereitet, wechselte dann aber auf das Leinentuch des russischen Zaren.“
„Das ist ja unglaublich!“, bemerkt Oskar. „Aber immer noch fehlt mir der Zusammenhang zu dem Ball heute Abend.“
Simon runzelt nachdenklich die Stirn. „Wenn ich all diese Informationen in Betracht ziehe, scheint es mir, als hätte Graf von Serecki gerade heute Angst, dass die Baronin irgendwelche Geheimnisse ausplaudern könnte. Aber worum könnte es sich dabei handeln? Die beiden kennen sich ja schon seit über zwanzig Jahren.“
„Sie haben ein feines Gespür, wenn ich das einmal sagen darf“, bemerkt ihr unbekannter Gast. „Unter normalen Umständen hätte die Baronin wohl kaum Zeit gehabt, mit Ihnen zu tanzen“. Er legt seine Hand auf Oskars linken Unterarm. „Graf von Serecki hätte sie wohl ausgiebig in Beschlag genommen. Doch heute war entgegen aller Gepflogenheiten seine Gattin anwesend. Die tanzt zwar kaum und hält sich am liebsten im Hintergrund auf, aber ihren scharfen Augen entgeht nichts.“
„Deshalb auch die eisigen Blicke der Baronin, die sie ihm immer wieder zugeworfen hat“, meint Simon. „Sie wollte ihn provozieren. Der Abend ist also für die hübsche Rothaarige völlig anders verlaufen, als sie es erwartet hatte. Womöglich muss sie sogar alleine nach Hause fahren.“
„Möglich, allerdings war sie zweifelsohne sehr aufgebracht und verärgert. Das hat wahrscheinlich den Grafen zu der Vermutung veranlasst, sie könnte Geheimnisse verraten haben, um ihm zu schaden.“
„Wir werden eine Lösung finden“, murmelt Simon langsam vor sich hin und starrt auf die Weinflasche auf dem Tisch, dann hebt er den Blick und wiederholt den Satz: „Wir werden eine Lösung finden. Das hat er gesagt, als er sich von dir abwendet hat, Oskar.“

Da war ich also in Wien, einer der Perlen Europas, und doch kann ich mich heute kaum daran erinnern, wie ich dort hingekommen bin. Die ersten Tage, nachdem ich mich von meiner Familie verabschiedet hatte, waren etwas völlig Neues für mich. Plötzlich waren mir meine Lebensgeister, mein Mut und meine Zuversicht genommen. Ohne Vorwarnung wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen und ich fiel in ein riesiges Loch. Erst nach Tagen löste ich mich ganz langsam aus meiner Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und unendlichen Müdigkeit. Mit der Zeit sortierte sich mein Kopf und ich gewann nach und nach wieder Oberwasser … ein gutes Gefühl.
Als wir am Abend in „Dommayer’s Casino“ einen ausgezeichneten Tafelspitz serviert bekamen und von der schwungvollen Walzermusik Johann Strauss‘ in den Bann gezogen wurden, wäre es mir keinesfalls in den Sinn gekommen, dass in dieser Nacht mein endlich wieder kühler Kopf noch sehr nützlich sein würde.

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