4.1 Von Kolumbus, Fisch und Rum

Die Morgensonne scheint Simon direkt ins Gesicht, als er die schmale Treppe hinaufsteigt und das Deck der Norfolk betritt. Er ist noch etwas verschlafen, doch in der wärmenden Sonne kehren seine Lebensgeister innerhalb kürzester Zeit zurück. In der Nacht hat er wie so oft heftig von Lindsay Rowley, von Marala, aber auch von Alexander Rickleby und Mr. Howard geträumt – sein Kojennachbar Callum Milton musste ihn zweimal wecken, weil er sich bei Simons Unruhe richtiggehend Sorgen machte. Doch im hellen Tageslicht verblassen die Träume schnell. An Deck gehen bisher nur wenige Männer ihrer Arbeit nach. Simon zieht es zur Reling hinüber, die von einem feinen, perlenden Wasserfilm überzogen ist – der Tau zeugt von einer kühlen, klaren Nacht.
„Guten Morgen, Mr. Brown“, ertönt die markige, dunkle Stimme des Kapitäns in Simons Rücken. Überrascht dreht sich der Angesprochene um.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken, Brown“, entschuldigt sich der Kapitän. „So früh schon auf den Beinen?“
„Guten Morgen, Mr. Mac Brodie“, antwortet Simon freundlich.
„Sir!“, kommt es kurz, aber bestimmt von dem mürrischen alten Seebären zurück.
„Sir?“
„Ja, Mr. Brown, es reicht, wenn Sie mich mit Sir ansprechen.“ Am Gesichtsausdruck des Kapitäns erkennt Simon unmissverständlich, dass dieser eine ernsthafte Unterredung mit ihm führen will. „Es ist gut, dass wir ein paar Minuten unter vier Augen haben, Mr. Brown. Wissen Sie – ich habe Sie mir als Feriengast an Bord nicht ausgesucht. Aber Sie sind nun mal hier … Sei’s drum. Sie begleiten uns im Auftrag von Ringfield & Lewis, also dienstlich. Und da Sie schon mal anwesend sind, können Sie sich auch nützlich machen – sonst kommen Sie noch auf den Gedanken, sich zu langweilen. Seien Sie sich sicher: Ich werde schon etwas Geeignetes für Sie finden. In der Rangordnung weise ich Ihnen den Platz zwischen den Offizieren und der Mannschaft zu.“
„Ja, Mr. … Sir“, antwortet Simon freundlich. Er ist tatsächlich froh über die Idee des Kapitäns, denn Faulenzen war noch nie etwas für ihn.
„Und Mr. Brown – freunden Sie sich nicht mit der Mannschaft an!“
„Entschuldigung?“ Nun schaut Simon doch etwas verdutzt.
„Mr. Brown, wir sind hier keine Reisegesellschaft. Wir leben über viele Monate auf engstem Raum zusammen, die Arbeit ist hart und die See oftmals unberechenbar und unversöhnlich. Dabei sind wir eine Zweckgemeinschaft, in der jeder für sich selbst kämpft und seinen eigenen Vorteil sieht. Dem Respekt, den Sie sich bei der Mannschaft verschaffen, kommt dabei eine enorme Bedeutung bei, denn er hilft, Ihr Leben zu schützen. Wenn es hart auf hart kommt, stehen ein paar Offiziere einer zahlenmäßig weit überlegenen Mannschaft gegenüber.“
„Ja, Sir!“
„Gut, wir haben uns verstanden. Ah, da ist Mr. Milton.“ Kapitän Mac Brodie hebt seinen rechten Arm, um auf sich aufmerksam zu machen, und Offizier Milton kommt zu ihnen herüber. „Guten Morgen, Sir“, grüßt er den Kapitän. „Scheint ein schöner Tag zu werden.“
„Mr. Milton, nehmen Sie Mr. Brown ins Schlepptau, zeigen Sie ihm den Kartenraum und weisen ihn in die Route ein, die wir segeln werden. Außerdem in die Routinen, die alle auf diesem Schiff zu befolgen haben. Dann gehen Sie mit ihm durch das ganze Schiff. Er kennt wahrscheinlich jede Planke, doch wird es von Vorteil sein, wenn er weiß, was wir geladen haben und wo die Sachen verstaut sind.“
„Aye, Sir“, antwortet Offizier Milton und wendet sich an Simon: „Also, Mr. Brown, los geht’s.“
„Sir“, verabschiedet Simon sich vom Kapitän, „danke für die klaren Worte.“
„Aye, Brown.“ Der Kapitän hebt den rechten Zeigefinger zum Gruß an den Schirm seiner Mütze.
Simon folgt Offizier Milton den steilen Niedergang mit den derben Holzhandläufen hinunter in den Schiffsbauch. Zwei, drei Türen klappen auf und zu, dann stehen sie in einem kleinen Raum mit einem großen, runden Tisch in der Mitte. Es gibt keine Stühle, dafür viele Regale und Schränke an den Wänden, in denen sich aufgerollte Landkarten und Navigationsgeräte befinden. Durch ein großes Fenster fällt das Tageslicht direkt auf den Tisch, den eine ausgebreitete Seekarte der amerikanischen Atlantikküste vollständig bedeckt.
„Das ist also unser Kartenraum, Mr. Brown. Aber Sie kennen ja alles von den Konstruktionsplänen.“
„Stimmt, allerdings sieht es vollständig eingerichtet ganz anders aus.“ Beeindruckt lässt Simon seinen Blick über die Regale schweifen. Dann wendet er sich wieder Milton zu. „Mein Name ist Simon, und ich würde mich freuen, wenn wenigstens wir uns beim Vornamen nennen könnten, da wir uns zudem auch noch eine Kajüte teilen.“
„Gerne, ich bin Callum“, antwortet der andere sichtlich erfreut. „Ich nehme auch an, wir sind etwa gleich alt – ich bin vierundzwanzig und stamme übrigens aus Chicago.“
„Ich bin zwanzig Jahre alt und komme aus Boston.“
„Ja“, antwortet Milton und muss lächeln, „du arbeitest für Ringfield & Lewis. Das hat der Kapitän doch gesagt.“
„Stimmt“, nickt Simon, „aber das mache ich nur nebenbei. Eigentlich habe ich die letzten Jahre in Harvard studiert. Aber das ist eine andere Geschichte …“
„Schau her“, unterbricht ihn Offizier Milton am Kartentisch und zeigt mit einem spitzen Bleistift auf einen Punkt vor der amerikanischen Küste. „Hier in etwa befinden wir uns jetzt. Wir segeln immer nach Süden, bis zu den Westindischen Inseln. Unser nächstes Ziel ist Kingston auf Jamaika. Dort werden wir unsere Ladung vervollständigen.“
„Ist denn noch Platz an Bord?“, wundert sich Simon.
„Platz für Rum ist immer!“, erwidert Callum mit einem breiten Grinsen.
„Rum?“
„Ja, wir nehmen Rum mit nach Java. Soviel ich weiß, ist der schon an einen Händler in Batavia verkauft.“
„Wo liegt Java?“, will Simon wissen.
„Du kennst Java nicht?“ Offizier Milton dreht sich zu einem Regal hinter sich um und beginnt darin zu suchen. „Einen Augenblick, ich finde sie gleich – am besten zeige ich dir Java auf der Karte.“ Schon zieht er ein leicht vergilbtes und zerknittertes aufgerolltes Pergament aus dem Regal und breitet es auf dem Kartentisch aus.
„Schau, Simon“, Callum fährt mit seinem rechten Zeigefinger über die Karte, „hier liegen Indien und die Insel Ceylon, diese Inselgruppe weiter unterhalb, zwischen dem Indischen und dem Pazifischen Ozean, ist Niederländisch-Indien und … mmh … hier haben wir Batavia im Norden der Insel Java. Normalerweise nehmen wir die Straße von Sunda, eine Meerenge zwischen Sumatra und Java. Dann sind wir auch schon fast in Batavia. Aber manchmal segeln wir durch die Straße von Malakka, zwischen Sumatra und Malaysia hindurch. Das hängt davon ab, ob man wieder von Piraten gehört hat. Die soll es in der Gegend geben – gesehen habe ich allerdings noch keine.“
„Was leben dort für Menschen?“, fragt Simon. „Und was sprechen sie für eine Sprache?“
„Auf Java leben Asiaten. Freundliche Menschen mit einem etwas dunkleren Hauttyp.“ Callum muss schmunzeln. „Sie haben keine weiße Hautfarbe so wie wir. Ich finde, dass die Haut mit etwas Farbe hübscher ausschaut, gerade bei Frauen.“
„Zarte, helle Haut ist doch aber der Wunsch der meisten Frauen“, wendet Simon ein. „Deshalb tragen sie im Sommer große Hüte, damit ihre Haut bloß keine Sonne abbekommt.“
„Du hast recht, wobei ich es anders eben schöner finde. Du wirst schon sehen, wenn wir dort sind. Die meisten Menschen, die dort leben, sind übrigens Muslime; die glauben an Allah, gar nicht an Gott.“
„Doch, Callum“, wendet Simon ein, „im Islam ist Allah für die Muslime Gott, genauso wie es Gott für die Christen und die Juden gibt. Das hat uns damals unser Lehrer erklärt.“
„Kann schon sein … Übrigens, unser Rumhändler vor Ort ist Niederländer.“
„Ist er ausgewandert?“
„Java ist eine niederländische Kolonie. Auf meiner letzten Reise habe ich ihn kurz gesehen und er sah nicht asiatisch aus … Vielleicht ist er tatsächlich ausgewandert. Viele Menschen auf Java sprechen Niederländisch, dazu haben sie natürlich noch eine asiatische Muttersprache, die sehr befremdlich klingt. Aber mach dir keine Sorgen, du kommst mit Englisch ganz gut zurecht.“
„Ich mache mir keine Sorgen“, antwortet Simon. „Ich finde das alles ausgesprochen interessant.“

Die nächsten Tage ist Simon sehr damit beschäftigt, sich mithilfe von Callum Milton und Roger Harrison, dem Ersten Offizier, in die praktische Seite der Navigation hineinzudenken und Routine im Lesen der Seekarten zu bekommen. Die beiden Offiziere reagieren mit Erstaunen auf Simons theoretische Fähigkeiten, die er sich aus Büchern und in Gesprächen während seiner Zeit bei Ringfield & Lewis angeeignet hat. Allerdings wird ihm in diesen Tagen auch deutlich, wie wichtig die praktische Erfahrung ist: So kann er zwar mit einem Sextanten seine Position genau bestimmen, aber auf einem wankenden Schiff unter seinen Füßen muss er noch üben.
Gegen Mittag des fünften Tages ist Simon gerade mit einer Nachricht für Roger Harrison auf dem Weg zum Bug des Schiffes, als ihn plötzlich und wie aus dem Nichts jemand anrempelt, sodass er Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Erschrocken blickt Simon sich um und schaut in die scheinbar gefühllosen Augen eines hageren Matrosen mit einer Narbe auf der linken Wange.
„Entschuldigung“, beeilt sich Simon zu sagen, „ich war völlig in Gedanken.“
Der Mann antwortet nicht direkt, murmelt nur ein paar Worte vor sich hin und richtet seinen Blick aufs offene Meer. Simon wundert sich, will aber kein Aufhebens darum machen. Also setzt er seinen Weg zum Bug fort, wo Roger Harrison gerade ein aufgerolltes Tau auf einen Belegnagel hängt.
„Mr. Harrison, Kapitän Mac Brodie lässt ausrichten, dass Sie ihn bei der Wache ablösen sollen. Ich soll hier für Sie weitermachen.“
Harrison schaut kurz auf. „Das ist nicht nötig, Brown, ich zähle nur das Tauwerk durch und bin in ein paar Minuten fertig. Der Kapitän hat auf einer früheren Reise feststellen müssen, dass einige Matrosen mehr als ein Viertel aller Taue in einem Hafen unter der Hand verkauft haben. Das kann bei schwerem Wetter fatale Folgen haben. Daher müssen wir Offiziere uns dann und wann davon überzeugen, dass die Anzahl der Taue an Bord mit der Inventur übereinstimmt.“
„Taue verkaufen? Was hat das für einen Sinn?“
„Ganz einfach: Es bringt Geld in die Taschen der Verkäufer – für Bier, Rum, Whisky und … Frauen!“
„Aber die Taue sind doch lebenswichtige Werkzeuge.“
„Natürlich, aber den Matrosen ist das Geld wohl wichtiger. Sie bekommen in jedem Hafen, den wir anlaufen, zwar einen Abschlag auf ihre Heuer, aber erst wenn wir wieder in New York einlaufen, erhalten sie den Rest des vereinbarten Entgelts. Einige Matrosen sind mit dieser Prozedur nicht einverstanden. Auf manchen Handelsschiffen wird sogar ein Teil der Ladung von Bord geschmuggelt und verkauft.“
„Das kann doch gar nicht sein!“, ruft Simon entrüstet aus. „Für mich klingt die Prozedur ganz in Ordnung. Wo ist das Problem?“
„Es gibt Reeder, die viel versprechen und wenig halten“, meint Harrison.
„Aber doch nicht Henderson Transatlantic!“
„Nein, natürlich nicht. Einige Matrosen haben allerdings schlechte Erfahrungen gemacht und haben deshalb nur wenig Vertrauen. Andere lernen in einem Hafen eine hübsche Frau kennen, und wieder andere lassen sich nach einer ausgiebigen Sauferei ausnehmen. Kurzum: Sie haben nach der Reise genauso wenig Geld wie vorher.“
„Die ersten Tage ist es mir gar nicht so aufgefallen, aber kann es sein, dass relativ wenige Matrosen an Bord sind?“
„Nun, Mr. Brown“, erklärt Harrison, „erstens sind wir kein Passagierschiff und zweitens liegen Matrosen nicht einfach so auf der Straße. Der Beruf ist gefährlich, und man ist eine lange Zeit fern von der Familie. Das will nicht jeder machen. Deshalb ändert sich die Zusammensetzung der Mannschaft auch von Reise zu Reise.“ Der Erste Offizier zeigt unauffällig in Richtung des Hauptmastes. „Sehen Sie den kräftigen, kleineren Mann mit dem dunklen Teint und den schwarzen Haaren? Das ist Alvaro Campillo, ein Mexikaner. Er fährt jetzt das zweite Mal mit uns.“
„Und der dort drüben, hinter dem Hauptmast rechts?“
„Das ist Octavian Bonepeak. Er ist Engländer und fährt das erste Mal mit Kapitän Mac Brodie. Ihn kann ich noch nicht einschätzen – vielleicht ein wenig vorlaut. Der muskulöse Mann neben ihm ist Louis Durand, ein Franzose und ein ordentlicher Kerl. Der ist schon das sechste Mal dabei.“
Noch etwas anderes interessiert Simon. „Auf welchem Schiff sind Sie und Mac Brodie eigentlich vorher gefahren?“
„Nun, ihr Name war Rose, aber diese Blume war langsam wirklich welk geworden. Sehr wahrscheinlich wird sie verschrottet. So wie ich Henderson Senior kenne, wird er aber vielleicht jemanden finden, der ihm dafür noch ein Sümmchen bezahlt.“
„Wie fühlt sich das an, von heute auf morgen auf einem ganz neuen Schiff unterwegs zu sein?“
Harrison muss einen Moment über die Frage nachdenken. Dann meint er: „Es ist genau wie beim Reiten: Jedes Pferd ist eine Persönlichkeit und damit anders, aber kann man eines reiten, kann man sie normalerweise alle reiten.“ Harrison lacht laut auf, um dann das Gespräch mit einem bestimmten „Weiter geht’s!“ zu beenden.

Nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, sehen Simon und die Offiziere der Norfolk in der Messe auf dem Achterdeck erwartungsvoll dem Dinner entgegen. Am oberen Ende des schweren Eichenholztisches residiert Kapitän Mac Brodie. Rechts neben ihm hat Roger Harrison seinen Platz eingenommen, auf der anderen Seite des Kapitäns sitzt Arthur Goodman, der für die Organisation der Waren und ihre Lagerhaltung an Bord verantwortlich ist. Des Weiteren bewacht er das Waffenarsenal. Das untere Tischende neben Callum Milton und Simon hat Patrick Thunderland belegt. Simon weiß inzwischen, dass Thunderland schon seit vielen Jahren mit Mac Brodie fährt und für die kaufmännischen Belange auf dem Schiff zuständig ist. Außerdem hat er eine medizinische Ausbildung und ist deshalb für die Kranken an Bord verantwortlich. „Haben Sie sich schon ein wenig bei uns eingelebt, Mr. Brown?“, fragt der schlanke Offizier seinen jungen Tischnachbarn.
„Die Räumlichkeiten sind mir ja bestens bekannt“, antwortet Simon. „Allerdings sieht jetzt natürlich alles etwas anders aus, wo es mit Leben gefüllt ist. Die Menschen hier an Bord sind mir noch fremd, aber ich glaube, wenn ich alle kennengelernt habe, dann werde ich mich auch sehr wohlfühlen.“
„Mr. Milton“, wendet sich jetzt der Kapitän an Offizier Milton, „haben Sie Mr. Brown mit den Navigationsgeräten und den Karten vertraut gemacht?“
„Ja, Sir. Ich bin mir sicher, dass er sich schnell zurechtfinden wird.“
„Gut“, nickt Mac Brodie und setzt beinahe ein Schmunzeln auf, „dann kann ich ihn ja in den nächsten Tagen auf Herz und Nieren prüfen.“
In diesem Moment betritt Louis Durand die Messe. Der Franzose in den Dreißigern übernimmt neben seinen Aufgaben als Matrose auch die Servicetätigkeiten in der Messe. Jetzt stellt er eine Flasche Weißwein und einen Korb mit Brot auf den Tisch. Sobald Durand den Offizieren eingeschenkt hat, fragt der Kapitän: „Nun, Mr. Durand, auf was dürfen wir uns denn heute freuen – Fisch oder Fleisch?“
„Fisch, Sir!“, erwidert der Matrose im Hinausgehen.
„Oh, Gott“, stöhnt Arthur Goodman. „Hat das nicht Zeit, bis wir Afrika erreicht haben?“
Simon wundert sich über diese Reaktion. „Fisch ist doch in Ordnung, oder nicht?“ Diese Frage erntet ein herzhaftes Lachen von den Offizieren. Mac Brodie beeilt sich, die Reaktion zu erklären: „Wissen Sie, Brown, wenn wir nach vielen Wochen und Monaten auf See kaum noch feste Nahrung haben, dann gibt es nicht mehr viel anderes als Fisch. Mr. Goodman ist bestimmt der Meinung, wir werden noch genügend Zeit für Fisch haben.“ Der Kapitän erhebt sein Weinglas. „Aber nun lassen Sie uns auf eine erfolgreiche Fahrt anstoßen. Gott sei mit uns!“ Kurz stehen die Offiziere von ihren Stühlen auf, um feierlich anzustoßen und in den Segenswunsch einzustimmen.
Simon hebt sein Glas zur Nase, um den Duft des Weines einzuatmen. Dann schließt er die Augen und lässt den ersten Schluck langsam über seine Zunge gleiten. Als er die Augen wieder öffnet, stellt er fest, dass er als Einziger noch steht.
„Mr. Brown, haben Sie etwa noch nie Wein getrunken?“, fragt Arthur Goodman erstaunt.
„Doch, doch“, beeilt sich Simon zu antworten.
„Herrlicher Weißwein“, bemerkt jetzt Patrick Thunderland. „So erfrischend! Ich würde sagen, ein Riesling aus dem Elsass.“
„Wo liegt Elsass?“, möchte Callum Milton wissen.
„Das Elsass ist eine Region im östlichen Frankreich, der Fluss Rhein bildet die Grenze zum Deutschen Bund“, erklärt Goodman.
Während die Offiziere ihr Tischgespräch lebhaft fortsetzen, hält Simon sich deutlich zurück und beteiligt sich kaum am Gespräch – er fühlt sich in dieser eingespielten Gruppe noch recht fremd. Bei den Worten „Riesling“ und „Elsass“ läuft ihm ein Schauer über den Rücken und er probiert genießerisch einen weiteren Schluck Wein. Jetzt ist er sich relativ sicher, was er im Glase hat.
„Mr. Brown, Sie sind so still.“ Patrick Thunderland versucht den auffällig ruhigen Gast aus der Reserve zu locken. „Gehen wir Ihnen auf die Nerven oder schmeckt Ihnen der Wein nicht?“
„Lassen wir ihm doch ein wenig Zeit, sich einzugewöhnen“, mischt sich Roger Harrison ein.
Simon aber sieht sich nun genötigt, sich zu erklären. „Entschuldigen Sie meine Zurückhaltung, aber durch das Zuhören lerne ich Sie alle besser kennen. Ich habe allerdings tatsächlich eine Frage, wenn ich das Thema wechseln darf.“
„Bitte, Mr. Brown“, nickt ihm der Kapitän zu.
„Als Callum, ich meine, Mr. Milton, mir den Kartenraum zeigte, sprach er von den Westindischen Inseln, auf die wir Kurs halten. Ist es Zufall oder hat der Name dieser Inseln etwas mit dem Land Indien zu tun?“
Patrick Thunderland muss schmunzeln. „Mr. Brown, haben Sie schon einmal etwas von Christoph Kolumbus gehört?“
„Ja, natürlich, er hat Amerika entdeckt.“ Simon erinnert sich an den Geschichtsunterricht bei seinem Hauslehrer Rudolf Vonecken.
„Richtig, aber war Kolumbus selbst der Meinung, dass er Amerika entdeckt hat?“
„Nein, er ist damals aufgebrochen, um einen westlichen Seeweg nach Indien zu finden.“
„Genau – er war bis an sein Lebensende der Überzeugung, dass er in Indien gewesen ist. Deshalb heißen die Ureinwohner auch Indianer und die Mittelamerika vorgelagerten Inseln werden Westindische Inseln genannt“, erklärt Thunderland begeistert.
„Oh“, erwidert Simon in scherzhaftem Tonfall, „wenn ich später einmal selbst über die Ozeane kreuze und Kurs auf die Westindischen Inseln halten soll, ist es gut wissen, dass sie vor Mittelamerika und nicht vor Indien liegen.“
Das fröhliche Gelächter der Runde verebbt, als Patrick Thunderland Simon noch einmal auf den Wein anspricht: „Also, Simon, wie schmeckt der Weiße Ihnen?“
„Gut“, kommt die knappe Antwort. Noch hofft Simon, damit das Thema beenden zu können, denn er möchte in dieser Situation nicht belehrend wirken.
„Gut!“, brummt Kapitän Mac Brodie. „Was soll das heißen, Brown? Ein paar Worte mehr dürften es schon sein.“
Simon denkt angespannt darüber nach, mit welchen Worten und in welchem Umfang er auf diplomatische Weise antworten kann, ohne Patrick Thunderland zu nahe zu treten – denn der liegt mit seiner Einschätzung des Weines komplett falsch, da ist Simon sich absolut sicher. Schließlich schiebt er seine Gedanken beiseite und entscheidet sich dafür, offen und ausführlich zu antworten: „Der Wein ist trocken vergoren und von einer blassgelben Farbgebung, und er hat ein eher zartes Bukett von weißen Beerenfrüchten, das mich auch an Pfirsich erinnert … Dazu gesellen sich mineralische Aromen und eine Spur Pfeffer. Der Alkoholgehalt verschafft dem Wein auf der Zunge ein kräftiges Volumen. Die zarte Frucht, die spürbare Säure, die ausgeprägte Frische und die feine pfeffrige Note sind gut ausbalanciert und enden in einem facettenreichen Finish von mittlerer Länge. Ich würde davon ausgehen, dass es sich um einen Grünen Veltliner handelt; aufgrund des kräftigen Alkoholgehalts schätze ich, dass er aus Österreich stammt – vermutlich aus dem Tal der Donau. Er kommt zweifelsohne von einem guten Weingut, aber beim Jahrgang bin ich mir nicht sicher – vielleicht 1829 oder 1830?“
In der Messe ist es absolut still geworden, nur das gleichmäßige Knarren des Schiffsgebälks ist zu hören. Simon blickt in die Runde und schaut in lauter fragende Gesichter. In diesen Moment des Staunens hinein öffnet sich die Tür und Louis Durand betritt, eine Fischplatte und Gemüsetöpfe balancierend, den Raum. Kapitän Mac Brodie findet als Erster seine Stimme wieder: „Durand, wenn Sie mit dem Auftragen fertig sind, bringen Sie noch eine Flasche von dem Weißwein.“
„Aye, Sir.“
Wie unter erprobten Seebären üblich, sind die Teller zügig beladen, und die Männer haben bereits mit dem Essen begonnen, als Louis Durand dem Kapitän eine schlanke, langhalsige Weinflasche aus Braunglas reicht. Mac Brodie legt sein Messer zur Seite, greift nach dem Flaschenhals und liest halblaut: „1829er Grüner Veltliner von der Donau in Österreich.“
Alle Augen sind auf Simon gerichtet.
„Donnerwetter, da bin ich aber von den Socken“, platzt es aus Arthur Goodman heraus. „Wir haben wohl einen Weinspezialisten an Bord! Verstehen Sie auch etwas von Rum, Simon?“
„Sie meinen Jamaikarum?“
„Ja, wir müssen auf Jamaika noch ein paar Fässer kaufen und zuladen – für einen Händler in Batavia.“
„Davon hat mir Mr. Milton berichtet. Ja, einige Kenntnisse habe ich.“
Goodman wendet sich an Mac Brodie: „Kapitän, dann werde ich Brown in Kingston mitnehmen. Mal sehen, ob wir nicht etwas Gutes für Batavia und für uns auftreiben können.“
Kapitän Mac Brodie beugt sich über den Tisch. „Sagen Sie einmal, Brown, woher kennen Sie sich mit Wein so gut aus?“
Simon nickt dem Kapitän zu. „Stimmt Sir – so viel konnte ich von mir bisher noch gar nicht erzählen.“
„Dann schießen Sie los. Ich denke, wir alle hier sind sehr gespannt“, fordert Mac Brodie ihn auf.
„Die letzten Jahre habe ich in Cambridge bei der Familie Rowley gewohnt; ich habe in Harvard Rechtswissenschaften und Ökonomie studiert, Sir.“
Mac Brodie hört aufmerksam zu. „Ja, das hat Clyde Henderson mir bereits berichtet – und dass es sich bei Mr. Rowley um einen Bankier aus Boston handelt … Weiter!“
„Ich bin in Deutschland geboren, in Mainz am Rhein; mein Vater besitzt dort eine Weinkellerei.“
„Das überrascht mich“, wirft Patrick Thunderland ein. „Sie sprechen akzentfreies Englisch, Brown.“
„Meine Mutter ist Engländerin; sie stammt aus London und hat zu Hause mit uns immer Englisch gesprochen. Mein Großvater in London hat einen Wein- und Spirituosenhandel in der Nähe des Covent Garden. Wir waren drei Kinder zu Hause: Christoph, mein älterer Bruder, meine Schwester Josephine und ich. Mit zwölf Jahren war ich das erste Mal einige Wochen in London und lernte von meinem Großvater viel über internationale Weine und Spirituosen wie Whisky, Cognac und Rum. Als ich wieder nach Hause zurückkehrte, lernte ich Jan ter Bruggen kennen, einen Holländer, der sich bei uns in der Nachbarschaft auf einem kleinen Weingut zur Ruhe gesetzt hatte. Er hatte viele Jahre für die Niederländische Ostindien-Kompanie gearbeitet, auch in Südafrika, und hat meine Neugier für die Welt geweckt. Außerdem war klar, dass mein Bruder die Weinkellerei meines Vaters übernehmen würde. Als ich siebzehn Jahre alt war, hat es mich nicht mehr zu Hause gehalten und ich bin über England nach Amerika ausgewandert. Auf der Überfahrt habe ich dann den Bankier Alastair Rowley und seine Frau kennengelernt. In Boston habe ich die Bekanntschaft des Schiffsbauers Maynard Ringfield gemacht und neben meinem Studium begonnen, für Ringfield & Lewis zu arbeiten.“
„Jetzt wird mir Einiges klar“, wirft Mac Brodie ein. „Wann sind Sie genau geboren, Brown?“
„Am 27. Mai 1812.“
„Dann hat er vor ein paar Tagen Geburtstag gehabt“, fällt Callum Milton auf.
„Welches Datum haben wir heute, Mr. Harrison?“ Mac Brodie schaut seinen Ersten Offizier an.
„Dienstag, den 5. Juni 1832.“
„Erst zwanzig Jahre alt“, wirft Arthur Goodman fast ungläubig ein, „und schon so viel erlebt!“
„Na“, meint der Kapitän jetzt fast launig, „da haben wir also jemanden dabei, der Englisch und Deutsch spricht, ein Studium abgeschlossen hat, Schiffe bauen kann und sich mit Navigation auskennt. Was sagt denn Ihre Familie dazu?“
„Mit meinem Vorhaben, nach Amerika zu gehen, haben sich meine Eltern zu Anfang sehr schwergetan, besonders meine Mutter. Aber jetzt scheint es ganz in Ordnung für sie zu sein.“
„Ihre Eltern sind sicherlich stolz auf Ihr bestandenes Examen“, meint Patrick Thunderland etwas naseweis.
„Keine Ahnung.“ Simon zuckt mit den Achseln. „Ich bin ja recht plötzlich auf dieses Schiff gekommen. Meine Familie weiß nur, dass ich noch Prüfungen abzulegen hatte, aber Ergebnisse kennt sie noch nicht.“
„Dann verpflichte ich Sie, in Kingston einen ausführlichen Brief an Ihre Familie abzuschicken, Brown. Haben wir uns verstanden?“, dröhnt der Kapitän nun wieder fast brummig. „Ihre Eltern müssen doch informiert werden.“
„Aye, Sir!“, erwidert Simon mit einem Schmunzeln.

Die ersten fünf Tage auf der Norfolk sind schnell an mir vorbeigeflogen, und im Nu würden wir in Kingston auf Jamaika einlaufen. Am Abend in der Messe gaben die Offiziere mir das Gefühl, einer von ihnen zu sein. Ich verspürte Kameradschaft – ein gutes Gefühl. Und der Kapitän hatte recht: Ein Brief an meine Familie musste geschrieben werden. Als ich den anderen von meiner Vergangenheit erzählte, kamen viele Erinnerungen hoch. Zeitweise hatte ich einen echten Kloß im Hals.
Auch zu Marala gingen meine Gedanken immer wieder zurück. Jetzt war es schon mehr als drei Jahre her, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Seither hatte ich einige Frauen kennengelernt – Lindsay Rowley näher, andere Frauen weniger. Und doch war es immer wieder Marala, die sich in meine Gedanken schlich. Weil sie meine erste Liebe war? Oder weil sie meine große Liebe war? Hätte ich doch in London bleiben sollen? Sie war verheiratet … Ob sie glücklich war? Ich wünschte es ihr.

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