1.3 Erstaunen, unterschätzen, anerkennen

  • 29.01.1819: Sir Thomas Stamford Raffles gründet im Fischerdorf Singapur Hafen und Niederlassung für die Britische Ostindien-Kompanie.

  • 22.02.1819: Spanien verkauft Florida an die USA.

  • 01.01.1820: Staatsstreich in Spanien. Das Land wird konstitutionelle Monarchie.

  • 07.09.1822: Brasilianische Unabhängigkeitserklärung.

  • 17.03.1824: Der Londoner Vertrag regelt die Beziehungen zwischen Großbritannien und den Niederlanden in Ostindien. Sumatra fällt den Holländern zu.

 

Die Dunkelheit hüllt die Nacht in Schweigen. Nur im Hause Braun herrscht Aufregung. Es ist fast 20 Uhr und der jüngste Spross, Simon, ist noch nicht zu Hause eingetroffen.
„Balthasar, was ist, wenn ihm etwas zugestoßen ist?“
„Ach, ich glaube, der hat nur wieder die Zeit vergessen.“
„Aber ein elfjähriger Junge darf doch nicht so lange alleine unterwegs sein. Den Simon kann man aber auch nicht im Hause halten!“
Das kurze Knarren einer Tür – Josephine bedeutet ihrem Mann, still zu sein, sie spitzt die Ohren, springt auf und geht zügigen Schrittes zur Zimmertür, um sie möglichst leise zu öffnen. Auf der Marmortreppe hört man zartes Tippeln von kleinen Kinderfüßen, und da steht er völlig verschreckt vor ihnen.
„Simon, wo kommst du jetzt her?“
„Entschuldigung, Mama!“ Mit großen Augen schaut Simon zu seiner Mutter auf.
„Bist du des Wahnsinns? Weißt du, was wir uns für Sorgen gemacht haben? Ein Elfjähriger treibt sich nachts noch in der Gegend herum!“
„Mama, ich bin fast zwölf!“
Nun hat auch Balthasar die Tür erreicht und sagt in ruhigem, aber festem Ton: „Ob elf oder zwölf, das spielt keine Rolle. Denke einmal darüber nach, was du machen würdest, wenn dein kleiner Junge später nicht nach Hause kommt. Wir sprechen morgen über die Angelegenheit und eine gerechte Strafe habe ich mir dann auch für dich überlegt!“
Brummend begibt sich Balthasar Braun zur Ruhe. Er muss noch länger über seinen Jüngsten nachdenken. Während Christoph jede freie Minute in den Weinkellern seines Vaters verbringt und jede Tätigkeit mit Begeisterung selbst ausprobiert, beginnt Simon seit einiger Zeit, die Weinberge und Weinkeller der Umgebung zu entdecken. Ihm macht es Spaß, die Weinberge mit ihren unterschiedlichen Rebsorten zu durchstreifen, die Aussicht zu genießen, fremde Menschen anzusprechen und kennen zu lernen. Auch er interessiert sich für alles rund um die Weintraube, aber er will noch mehr darüber wissen, will hören, was andere Menschen darüber denken, was sie anders machen als sein Vater. Auf seinen Ausflügen in die Umgebung von Mainz hat Simon es sich zur Angewohnheit gemacht, bei verschiedenen Winzern und Weinkellereien vorbeizuschauen. Schnell merkt er, dass er mit seinem freundlichen Wesen und seiner höflichen Art ein willkommener Besucher ist. Da sein Vater ein geachteter und bekannter Kaufmann ist, werden Simons neugierige Fragen bereitwillig beantwortet.

Balthasar ist am nächsten Tag sehr früh auf den Beinen. Rosi hat ihm sein Frühstück zubereitet und im Salon serviert. Nun ist es 6.30 Uhr und Balthasar sitzt in einem von zwei braunen Trakehnerpferden gezogenen Landauer. Er lässt sich von Joseph, seinem lang gedienten Kutscher, in die Stadt fahren. Auf dem Rathaus von Mainz hat er einige behördliche Dinge zu klären.
Auf dem Rückweg, gegen Mittag, „schwebt“ der Landauer mit seiner weichen Blattfederung über die mit Kopfsteinpflaster befestigten Hauptstraßen nur so dahin. Joseph hat als erfahrener Kutscher die energiegeladenen Trakehner gut im Griff und so kommt das Gespann zügig voran. Es ist ein herrlicher sonniger Tag geworden. Balthasar trägt einen Hut mit breiter Krempe, denn die Sonne scheint ihm direkt auf die Stirn. Er lehnt sich nach vorne zum Kutschbock: „Joseph, fahren Sie mich bitte bei den Gielings vorbei, das liegt fast auf dem Weg!“
„Wird gemacht, Herr Braun.“
Nach einigen Kilometern biegt der Landauer an einem antiken Wegekreuz rechts von der Straße in einen befestigten Weg ab, der über eine Steigung durch Weinberge zu einem kleineren Hof führt. Joseph bremst den Wagen und die Pferde schnauben vor sich hin. Er springt vom Kutschbock, während er die Zügel gefühlvoll in der Hand behält. Fast zärtlich streichelt er „seinen“ temperamentvollen Trakehnern über die Stirn.
Balthasar Braun überquert den Hof in Richtung Eingangstür. Ihm kommt bereits ein Knecht entgegen, der auf Joseph zusteuert, denn die Pferde werden Wasser brauchen.
„Guten Tag, Herr Braun.“
„Guten Tag, ist Herr Gieling am Hof?“
„Ja, in der Küche, Sie kennen sich ja aus.“
„Danke.“ Balthasar tritt durch die Eingangstür und kommt in den dunklen Flur, direkt links liegt die Küche. Er klopft höflich an die halb geöffnete Tür.
„Herein, Herr Braun, ich habe Sie schon im Hof gesehen!“
„Guten Tag, August.“ Mit einem leichten Quietschen in den Scharnieren öffnet sich die Tür und Balthasar betritt die recht kleine, aber gemütlich wirkende Küche. Der Winzer August Gieling sitzt neben seiner Frau am Küchentisch, den rechten Arm von der Hand bis zum Oberarm in einem festen Verband. Seine Frau schaut zu dem Gast auf. „Setzen Sie sich doch zu uns, Herr Braun. Darf ich Ihnen eine frische Tasse Kaffee anbieten?“
„Ja, die nehme ich gerne an, der Kaffee duftet ausgesprochen aromatisch.“
Balthasar setzt sich neben Gieling. „August, ich wollte Sie fragen, ob es möglich ist, dass Sie unser Kontingent an Rieslingwein erhöhen, Preise wie gehabt. Die Anfragen aus England und Skandinavien sind hoch. Aber was ist mit Ihrem rechten Arm geschehen? Er sieht frisch geschient aus.“
„Hat der Simon denn nichts zu Hause erzählt?“
„Ich bin heute sehr früh aufgebrochen, und gestern Abend ist er zum wiederholten Mal sehr spät nach Hause gekommen, da hat er Ärger mit Josephine und mir bekommen.“
„Der Simon schaut öfters mal vorbei, wenn er durch die Weinberge streift.“
Balthasar zieht die rechte Augenbraue hoch: „Ach ja?“
„Simon stellt viele Fragen über die Arbeit im Weinberg und schaut mir auch im Keller über die Schulter. Sie haben einen sehr interessierten Sohn, Braun. Wie alt ist Simon eigentlich?“
„Wie er gestern betonte, fast zwölf Jahre! Was heißt, der ist öfters hier?“
„Wie ich von Freunden und Nachbarn weiß, ist der Simon in der ganzen Gegend unterwegs; er wird später bestimmt ein Weltreisender.“
August lacht, dann hebt er seinen gebrochenen Arm leicht an. „Das ist übrigens gestern geschehen. Ich wollte Weißwein abstechen und dazu den Wein in ein anderes Fass pumpen. Ich habe die Pumpe angeschlossen und den anderen Teil des Schlauchs in das leere Fass gesteckt. Dann bin ich mit der Leiter am vollen Fass hinaufgestiegen. Ich hatte aber die Leiter wohl nicht ganz fest ausgerichtet, so geriet ich mit ihr in Bewegung und bin einige Zeit später auf dem Boden liegend wieder aufgewacht. Ich war ganz benommen und hatte einen dumpfen Schmerz im Arm. Da ich den Arm kaum bewegen konnte, bin ich davon ausgegangen, dass er gebrochen war. Ich dachte noch darüber nach, wie ich aufstehen könnte, da steckte ihr Sohn seinen Kopf um die Ecke. Er hat die Situation sofort erfasst und mir geholfen, mich aufzurappeln. Simon hat dann auch meine Frau geholt, aber mein eigentliches Problem war meine angefangene Arbeit. Die konnte nun wirklich nicht so liegen bleiben! Simon bot mir an, den Wein umzupumpen. Wir haben zwar nur eine kleine Handpumpe, aber als meine Frau und ich einige Stunden später vom Arzt zurückkamen, war der Wein umgepumpt und alles perfekt gesäubert. Sie haben einen tollen Jungen, Braun! Weil es schon auf den Abend zuging und Simon den Weg nach Hause vor sich hatte, hat ihn meine Frau zum Abendbrot bei uns überredet. Mit vollem Magen geht sich’s leichter nach Hause!“
Balthasar Braun hat während der Erzählung des Winzers kein Wort von sich gegeben, nur aufmerksam zugehört. Nun setzt er die vor ihm stehende heiße Tasse an seine Lippen und trinkt vorsichtig einen kleinen Schluck von dem herrlichen Kaffee. Dabei schaut er Frau Gieling an, die ansetzt: „Der Simon wird seinen Weg schon machen. Wie ich gehört habe, war das nicht das erste Mal, dass er mit angepackt hat. Frau Dietzenberg vom Weingut Berghof erzählte mir neulich, dass der kleine Braun ihrem Mann geholfen habe, gelesene Trauben zügig ins Weingut zu bringen, als es während eines Lesetages heftig zu regnen anfing. Der Simon habe die auf den Wagen gelesenen Trauben mit einer Plane gegen den Regen abzudecken geholfen und anschließend das Gespann mit den beiden Pferden ins Weingut gefahren. Der hat ein Händchen für Pferde, soll der Dietzenberg gesagt haben.“
Balthasar ist erstaunt: Das hätte er Simon gar nicht zugetraut. „So leicht unterschätzt man Menschen, und dann auch noch den eigenen Sohn!“
„Aber, Braun, zurück zum Geschäft! Sie wollen Wein kaufen, etwas mehr von meinem besten Riesling als vereinbart. Gut, ich habe noch drei Fuderfässer zur freien Verfügung. Sie können sich allerdings vorstellen, dass ich auch noch andere Verpflichtungen habe.“
„August, wir werden uns schon einig! Sagen Sie – Ihre Fuderfässer haben zehn Ohm, oder?“
„Ja, zehn Frankfurter Ohm!“
Balthasar überschlägt kurz im Kopf: drei mal 14,30 Hektoliter sind 42,90 Hektoliter, also 4290 Liter. „August, ich gebe Ihnen fünf vom Hundert oben drauf!“
„Abgemacht, Braun, und Sie lassen die drei Fässer abholen.“
„Gut, so wird’s gemacht.“
Balthasar Braun bedankt sich herzlich bei August Gieling und seiner Frau, dann verabschiedet er sich, um seinen Platz im Landauer wieder einzunehmen. Er setzt seinen Hut auf, legt den Kopf in den Nacken und lässt sich die strahlende Sonne direkt ins Gesicht scheinen. Seine Gedanken drehen sich um Simon. „Joseph, ist der Simon öfter bei Ihnen im Stall?“
„Ja, Herr Braun.“
„Reitet der Simon auch?“
„Ja, Herr Braun, er bewegt das ein oder andere Pferd.“
„Wollen Sie mir damit sagen, dass er stundenlang alleine auf einem Pferd in der Gegend umherreitet?“
„Mmh … ja, Herr Braun.“

Etwa eine Stunde später fährt der Landauer mit Balthasar und Joseph durch die Allee auf die Braun’sche Villa zu. Rosi sieht den Wagen vor dem Eingangsportal anhalten und kommt angelaufen, um Balthasar die Tür zu öffnen.
„Danke, Rosi.“
„Guten Tag, Herr Braun, ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt.“
„Herrliches Wetter, guter Kutscher, gute Fahrt.“ Er steigt aus und dreht sich auf der breiten Treppe zur Haustür noch einmal um. „Ist meine Frau im Hause?“
„Ja, Herr Braun, im Wohnzimmer.“
Balthasar betritt durch die schwere dunkle Eingangstür die Empfangshalle, und steigt die breite Marmortreppe hinauf, vorbei an den im Flur hängenden in Öl gemalten Szenen aus den Weinbergen am „Roten Hang“ an der Rheinfront.

Im Wohnzimmer hat Josephine es sich in einem bequemen Sessel am lichtdurchfluteten Fenster gemütlich gemacht und liest in einem Buch. Als ihr Mann eintritt, legt sie die Lektüre beiseite und lässt sich von ihm in die Arme nehmen. Sie lächelt Balthasar an und streift mit ihren zarten, gepflegten Fingern durch seinen kurz geschnittenen schwarzen Bart. „Wie war es im Rathaus?“
„Alles ist zu unserer Zufriedenheit verlaufen. Ich habe mich von Joseph noch bei den Gielings vorbeifahren lassen. Die zusätzliche Menge Riesling habe ich auch bekommen. Auf den August Gieling kann man sich verlassen.“
„Schatz, was machen wir mit dem Simon? Ich mache mir wirklich große Sorgen. Rudolph Vonecken hat mir gesagt, der Junge hat heute, wie gewöhnlich, gut im Unterricht mitgearbeitet. Christoph ist mit zwei Nachbarsjungen in der Kellerei, Josephine bei Leni Rückert. Aber Simon scheint wieder unterwegs zu sein, Rosi kann auch nicht sagen, wo er ist!“
„Josephine, der Simon kommt mir wie ein Puzzle vor, das wir zusammensetzen müssen. Der ist zwar erst ‚fast zwölf’, aber wenn alles stimmt, was ich heute gehört habe, dann …“
Balthasar berichtet Josephine, was er von August Gieling, dessen Frau und dem Kutscher erfahren hat. Seine Frau sitzt mit großen Augen und offenem Mund da. „Und jetzt? Wie verhalten wir uns?“
„Schatz, auf der Rückfahrt heute habe ich mir Gedanken gemacht. Ich denke, zu Hause halten können wir den Jungen nicht mehr. Wir sollten uns in Ruhe einmal seine Version anhören und vielleicht finden wir eine gemeinsame Lösung …“

Nach dem Abendbrot sitzen Simon, Josephine und Balthasar in stiller Atmosphäre im Wohnzimmer zusammen. Simon erwartet ein aufziehendes Donnerwetter. Wie soll er die Situation des zu späten Nachhausekommens erklären? Sicher, die Sache mit August Gieling ist bestimmt eine gute Entschuldigung, aber sie war ja nicht der einzige Grund. Wird die Erklärung nicht eine Kettenreaktion auslösen und viel mehr ans Tageslicht bringen, das von ihm erklärt werden muss, als ihm lieb ist? Nein, Mund halten und die Strafe aussitzen!
Balthasar wendet sich seinem Sohn zu: „Simon, deine Mama und ich haben heute Nachmittag über dich und den gestrigen Abend gesprochen.“
„Ja, Papa, ihr habt euch jetzt eine Strafe für mich überlegt. Ich werde sie akzeptieren!“
Durch Simons Antwort wird Balthasar bewusst, dass der Junge pokert. Der wird nur zugeben, was sie ihm beweisen können. Na, warte, Bürschchen, fast zwölf ist er und so faustdick hat er es hinter den Ohren!
„Simon, die Mama und ich haben grundsätzlich nichts dagegen, wenn du dem Dietzenberg die Trauben abzudecken hilfst, wenn es zu regnen beginnt, oder wenn du ihm das Gespann zum Weingut fährst. Wir sind auch nicht böse, dass du zu verschiedenen Zeiten ein Pferd aus unserem Stall genommen hast, um damit in der Gegend umherzureiten. Und Mama und ich sind stolz darauf, dass du dich um den August Gieling gekümmert hast, als er seinen Arm gebrochen hat, und dass du den Wein für ihn abgestochen hast.“
„Woher wisst ihr das?“ Simon ist wie vor den Kopf gestoßen. Wissen die alles, geht es ihm durch den Kopf.
„Simon, die Mama und ich würden uns allerdings darüber freuen, wenn du höchstpersönlich uns in Zukunft darüber in Kenntnis setzt, was du zu tun vorhast, und nicht erst darüber, was du getan hast!“
„Mama, Papa …“ Das Konzept „Augen zu und durch“ völlig aus dem Blick verloren, erzählt Simon seinen Eltern, was geschehen ist. Josephine und Balthasar hören aufmerksam zu. „Und wenn ihr nicht zu Hause seid?“
„Simon, wenn weder dein Papa noch ich zu Hause sind, dann sage dem Herrn Vonecken, der Rosi, dem Joseph oder dem Wilhelm in der Kellerei, was du vorhast! Wenn das in den nächsten Monaten klappt, dann nimmt der Papa dich mit zu den Großeltern nach London, so wie im letzten Jahr die Josephine und den Christoph.“
„Au ja, das wäre toll!“ Simon springt auf und umarmt seine Eltern.
„So, du kannst jetzt den anderen folgen, ab ins Bett! Ich schaue gleich nach dir“, bestimmt Josephine und lächelt ihm hinterher.

Vom Verhalten meiner Eltern war ich beeindruckt: kein Anschreien, keine Schläge, keine Haft (Stubenarrest). Was sie mir erklärt haben, habe ich verstanden, und was ich davon behalten habe, ist dies: Sage immer die Wahrheit, denn du kannst nicht wissen, was dein Gegenüber weiß! London, England, das war ein besonderes Ziel für mich. London – die „Welthauptstadt“, die Stadt des großen British Empire!

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