1.2 Das zerborstene Rotweinfass

  • 19.09.1814: Eröffnung des Wiener Kongresses; der Deutsche Bund entsteht.

  • 18.06.1815: In der Schlacht bei Waterloo wird Napoléon Bonaparte endgültig geschlagen.

  • 20.11.1815: Zweiter Pariser Frieden Frankreichs mit Preußen, Österreich, Russland und Großbritannien.

  • 05.05.1816: Das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach erhält eine Verfassung. Es ist somit die erste konstitutionelle Monarchie auf deutschem Boden.

  • 04.03.1817: James Monroe wird als Nachfolger von James Madison der fünfte US-Präsident.

 

„Christoph, Simon, aufhören! Ihr schlagt euch noch die Köpfe ein!“ Im Eingangsportal der Braun’schen Villa steht Rudolf Vonecken, der Hauslehrer. Unten im Hof dreschen die Jungen mit Holzschwertern aufeinander ein. „Du triffst mich nicht!“, ruft Christoph und dreht sich dabei so schnell um die eigene Achse, dass er Simon mit seinem Holzschwert auf den Hosenboden schlägt. „Au, na warte, du Verlierer, jetzt bin ich an der Reihe!“ Kaum hat es Simon ausgesprochen, da streift schon Christoph Holzschwert durch sein Gesicht. Blut rinnt aus einer Schürfwunde über die linke Wange. Simon beißt die Zähne zusammen und kämpft tapfer weiter. Rudolf Vonecken ahnt, dass die Jungen mit ihren Gedanken in einer vergangenen Welt sind, weitere Worte werden sie nicht beruhigen. Mit ein paar großen Sätzen steht er zwischen ihnen und hat beide mit einem festen Griff im Nacken gepackt. Mit ruhiger, bestimmter Stimme erklärt er: „Jetzt ist es genug, ihr sitzt in fünf Minuten am Wohnzimmertisch. Simon, du gehst bitte bei Rosi in der Küche vorbei und lässt dir die Wange verarzten!“

Balthasar und Josephine-Christine legen außerordentlich großen Wert auf die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder. Schon von früh an bekommen die drei – Christoph, Josephine und Simon-Balthasar, genannt Simon – Privatunterricht. Josephine-Christine hat mit Balthasar von Anfang an die Übereinkunft getroffen, dass im Hause Braun Englisch gesprochen wird, denn schließlich sei sie es gewesen, die von der Themse aus in ein neues Leben am Rhein aufgebrochen war. Der Belgier Rudolf Vonecken wurde als Erzieher gewählt, weil er von zu Hause aus die französische Sprache mitbringt und zudem auch noch Spanisch und Deutsch beherrscht. Von jungen Jahren an hat er die meisten Länder Europas bereist und kann durch seinen breiten Erfahrungsschatz den Kindern den Lehrstoff sehr anschaulich vermitteln. So bekommen sie von Montag bis Samstag, jeweils bis in den Nachmittag hinein, Unterricht in Sprachen und Naturwissenschaften – aber auch die Künste dürfen nicht fehlen.
Anschließend verschwinden Christoph und Simon meistens in der Weinkellerei, denn dort gibt es immer etwas zu sehen und zu erleben. Die blonde Josephine wird dagegen häufig von der Mutter zu sich in die Stube gerufen. Sie ist zu besorgt, dass dem Mädchen die rauen Umgangsformen der Jungen nicht gut tun. Lieber lässt sie Josephine zu Rosi in die Küche entwischen. Zu gerne schaut sie der in die großen Töpfe und manchmal darf sie auch beim Kochen oder Backen helfen. In einer so großen Küche, in der über zwanzig Personen einen Platz zum Essen finden, ist immer etwas los. Bei den Brauns ist es üblich, dass alle Büroangestellten und Arbeiter eine warme Mahlzeit am Tag bekommen.
Die Weinkellerei Braun kauft von Winzern aus der Mainzer Region Weiß-, Rosé- und Rotweine in Holzfässern. Diese werden entweder auf Flaschen abgefüllt oder gleich als Fasswein an Weinimporteure in England, Holland, Dänemark und anderen Ländern verkauft. Vor allem die spritzigen Rieslingweine sind im Ausland sehr gefragt.

Die große, schwere doppelflügelige Eichentür öffnet sich einen kleinen Spalt, um sich gleich wieder auf wundersame Weise zu schließen. In dem dahinter liegenden großen, hallenförmigen Raum ruhen unzählige, in geordneten Reihen aufgestapelte kleine und große Eichenholzfässer, die bis zum Rand mit Wein gefüllt sind. Es ist kühl und relativ dunkel hier. Nur einige kleine Fensteröffnungen dicht unter der Decke lassen ein wenig Tageslicht eindringen. Ist man das erste Mal hier, wirkt die Halle kathedrahlenartig, fast beängstigend. Doch Simon ist hier unterwegs, so lange er denken kann. Mit einem Satz springt er, so leise es eben geht, hinter die erste Fassreihe, die sich neben der Tür auftürmt. Er verharrt in gebückter Haltung, langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit und er beginnt die einzelnen Fassreihen im Raum wahrzunehmen.
An allen nur erdenklichen Stellen hat Simon nach Christoph gesucht – er kann sich nur noch in dieser Halle versteckt halten. Langsam und geduckt schleicht der Junge sich durch die Gänge. Jedes Mal, wenn er einen Fuß auf den Boden setzt, ertönt ein Geräusch, als würden Steine gemahlen, denn die Halle ist mit kleinen Kieselsteinen ausgelegt. An den Eckpunkten der einzelnen Fassreihen verharrt Simon jeweils einige Sekunden und lauscht, aber alles bleibt absolut still. Langsam und gezielt setzt er einen Fuß vor den anderen, immer tiefer in die dunkle Halle hinein. Plötzlich ertönt ein lautes Lachen, das in ein Schreien übergeht. Simon sieht einen Schatten hoch oben in der dritten Lage einer Fassreihe, dann ist er verschwunden, nur das Schreien bleibt noch einen Moment. Simon läuft auf die Stelle zu, an der er seinen aus der oberen Fassreihe gestürzten Bruder vermutet. Dann sieht er Christoph, der gerade aufsteht. Er schaut Simon benommen an und schüttelt sich mit der rechten Hand Kies aus dem Haar. Ein leichtes Knarren von Holz – in seinem rechten Augenwinkel registriert Simon, dass sich ein Weinfass aus der obersten Lage in Bewegung setzt. In einigen Sekunden wird es nach unten krachen und alles unter sich begraben! Wie ein Blitz rennt Simon los und überfliegt förmlich die letzten Meter zu Christoph, setzt zum Sprung an und rammt seinen Kopf in die Brust seines Bruders. Dieser verliert binnen Sekunden die Bodenhaftung und stürzt fast zwei Meter zurück. Ein lautes Krachen im Kiesbett, und ein großer Schwall Rotwein schwappt über die zu sich kommenden Jungen.

Mit einem kurzen lauten Quietschen schwingen die großen schweren Flügel der Hallentür auf, Licht flutet kegelförmig in den Raum und in seiner hellen Spitze sitzen die beiden Jungen neben dem, was vor ein paar Sekunden noch ein volles Weinfass war. Im blendenden Licht sehen Christoph und Simon die Umrisse zweier Gestalten in schnellen Schritten auf sich zukommen. Die eine ist groß und schlank gebaut. „Simon, Christoph, um Himmels willen, ist euch etwas geschehen?!“ Balthasar kniet sich mit besorgtem Gesicht neben seine beiden Jungen. Christoph hält sich seine rechte Hand flach vor die Brust.
„Hast du Schmerzen?“
„Ja, das war knapp! Hätte Simon mich nicht mit seinem Kopf umgerammt, hätte ich das Fass wohl auf den Kopf bekommen.“
„Das war einmal ein schöner Portugieser Rotwein“, bemerkt die andere Person trocken. Kellermeister Wilhelm – klein, füllig und kahlköpfig – hält eine Fassdaube kreisend in der rechten gehobenen Hand. „Wie ist das Fass da oben denn heruntergekommen? Die sind doch alle einzeln gesichert.“ Wilhelm versucht, an der Fassreihe hochzuklettern, aber sein dicker Bauch ist ihm im Weg. Mit ein paar gezielten Griffen schwingt sich Balthasar in die oberste Fasslage und erkennt sofort, dass die Sicherungskeile verrutscht sind. „Wilhelm, wir sollten uns überlegen, ob wir nicht jede Lage am Ende doppelt sichern!“
„Ja, da sollten wir uns wirklich Gedanken machen“, stimmt Wilhelm zu. „Jetzt werde ich aber erst mal eine Karre holen und den Schlamassel hier aufräumen“, ergänzt er, dreht sich zum Ausgang und setzt sich in Bewegung.
„So, ihr beide kommt jetzt mit ins Haus.“ Balthasar legt die Hände auf die Schultern seiner Söhne.
„Vater, bist jetzt böse auf uns?“, fragt Christoph. Dann dreht er sich zu seinem kleinen Bruder um: „Simon, das war wohl in letzter Sekunde. Danke, du hast mich gerettet!“
„Da haben wir alle sehr viel Glück gehabt!“, brummt der Vater. „Es ist nicht eure Schuld gewesen, das hätte jedem geschehen können, ihr habt ein grundsätzliches Problem aufgespürt. Wenn ihr hier in der Kellerei seid, haltet immer die Augen offen und benutzt euren Verstand …“
Balthasar legt die Arme um seine Söhne und führt sie in die Gerätehalle. Sie gehen vorbei an den Weinpressen, den großen und kleinen Gärfässern, den Pumpen und sonstigen Gerätschaften, die in einer Weinkellerei benötigt werden. Alles befindet sich in einem tadellosen Zustand: Sauberkeit und Ordnung sind für Balthasar, genau wie für seinen Vater, eine wichtige Maxime im Leben. „Wir arbeiten hier mit Trauben, also mit Lebensmitteln, da ist Sauberkeit das Allerwichtigste“, betet er auch Christoph und Simon immer wieder vor.
Vater und Söhne betreten durch eine breite Eichentür den großen Innenhof, auf dem Pferdefuhrwerke ohne Probleme wenden können. Alle Gebäude sind um diesen Innenhof herum erbaut worden. Hinter dem imposant wirkenden geschmiedeten Eingangstor führt ein gepflegter Kiesweg, den riesige alte Bäumen säumen, auf die Braun’sche Villa zu.

Der Schreck saß mir damals ganz schön in den Knochen, ich glaube, ich habe noch wochenlang über die Situation nachgedacht. Was ich daraus gelernt habe? Manchmal ist es besser, über Situationen und Aufgaben länger nachzudenken, um sie genauer abschätzen zu können, und manchmal ist es von Vorteil, Aufgaben sofort anzugehen. Doch wann ist die eine, wann die andere Vorgehensweise richtig?

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