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6.5 Der Orient – ein neues Abenteuer

Bei regnerischem, aber mildem Wetter führt die Reise der „Potere di Seduzione“ vorbei an Brindisi und der Insel ...

Bei regnerischem, aber mildem Wetter führt die Reise der „Potere di Seduzione“ vorbei an Brindisi und der Insel Korfu in Richtung Kreta. Am späten Nachmittag des 5. März 1835 läuft der Dreimaster in den malerisch gelegenen Hafen von Chania im Nordwesten der Insel ein. Die grauen Wolken haben sich endlich aufgelöst und die Sonne steht als golden schimmernder Ball über dem Horizont. Die meisten Passagiere sind froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, und die milde Abendluft lockt zu einem Spaziergang am Hafen in Richtung der einladend wirkenden Lokale mit Blick auf das Wasser. So geht es auch Simon und Raj, die sich zusammen auf den Weg machen und sich bald über eine kleine, unscheinbare Wirtschaft am Ende des Hafens einig werden. Beim Betreten des Gastraums bemerken sie indessen schnell, dass sie nicht die Einzigen mit dieser Idee sind – in einer der hinteren Ecken sitzen Robin Frost und Jussuf Qasim, die sich gleich bemerkbar machen und sie zu sich an den Tisch bitten.
Das Essen ist deftig und dem griechischen Wein wird reichlich zugesprochen; insbesondere ein Roter aus der Kotsifali-Rebe hat es ihnen angetan. Er wirkt vollmundig, hat eine zarte rote Beerennote, aber auch spürbare Gerbstoffe und edle Gewürznoten.
Jussuf Qasim wendet sich Raj mit neugierigem Blick zu. „Richard Louis!“, bemerkt er kopfschüttelnd, „damit hätte ich nicht gerechnet. Als Robin und ich die Namen auf der Passagierliste überflogen, teilte er mir mit, dass du ein aus Schottland stammender britischer Offizier wärst. So war ich doch überrascht, als ich dich dann das erste Mal gesehen habe. Verstehe mich nicht falsch, Raj, aber Richard Louis? Du siehst aus wie Raj, der Inder … nicht wie ein typischer Brite.“
Raj wirkt bei Qasims Worten amüsiert und entspannt. „Nun, genauso ist es ja eigentlich auch: Ich habe indische Wurzeln und kein Problem damit, wenn mein Äußeres den einen oder anderen schon mal auf die falsche Fährte führt. Ich erwarte allerdings einen respektvollen Umgang miteinander. Leider gibt es auch viele Cliff Hawkings auf dieser Welt, die einen abschätzig behandeln und einem immer wieder Knüppel zwischen die Beine werfen.“
„Ich habe nachgedacht“, erwidert Jussuf Qasim nun ernster, „du sprichst die englische und die indische Sprache, bist als Richard Louis im Vereinigten Königreich genauso zu Hause wie als Raj in Indien – übrigens eine ausgezeichnete Idee von deinen Eltern, dir für jedes Land einen eigenen Namen zu geben –, außerdem hast du eine Ausbildung genossen, bist Offizier und siehst etwas von der Welt. Das sind beachtliche Leistungen, und du solltest stolz auf dich sein. Ich bin mir sicher, du wirst noch viel erreichen.“
„Danke, Qasim, aber stell dich selbst dabei nicht in den Schatten. Du wurdest ebenfalls zweisprachig erzogen, arbeitest für Waghorn & Co. in London und wirst die größte Stadt der Welt sicher auch einmal persönlich erleben. Du wirst genauso deine Erfahrungen machen und deine Chancen bekommen; du musst sie nur ergreifen.“
Nun klopft auch Robin Frost dem Ägypter anerkennend auf die Schulter. „Oh ja, Qasim, du bist klug und wirst es noch weit bringen“, versichert er. „Mit deinem Namen fällst du überall auf, nur ich kann ihn mir einfach nicht merken.“
„Jussuf Qasim …“, wundert sich Simon. „Wo ist da das Problem?“
„Das ist nur der Anfang“, grinst Robin Frost, „sag’s ihm, Qasim.“
Der junge Ägypter strahlt nun voller Stolz. „Ich bin Jussuf Qasim Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Said al Bilal“, erklärt er.
„Entschuldige, noch einmal ganz langsam“, platzt es aus Raj heraus. „Ich dachte schon, bei mir ist es kompliziert.“
„Ich bin Jussuf Qasim, Sohn meines Vaters Abbas. Hadschi bedeutet, dass er schon einmal als Pilger in Mekka und wiederum Sohn des Hadschi Said aus dem Geschlecht der Bilal war.“
„Wenn du es so erklärst, ist es eigentlich recht gut nachvollziehbar, aber Qasim ist definitiv einfacher.“ Simon erhebt sein Glas, um mit den anderen anzustoßen.
„Übrigens“, fügt der Ägypter noch hinzu, „Qasim bedeutet so viel wie ‚der Teilende‘, also der, der bereit ist, anderen etwas abzugeben.“

Während die Besatzung am nächsten Vormittag alle Hände damit zu tun hat, die Lebensmittelvorräte aufzustocken sowie leere Fässer und Kisten von Bord zu schaffen, versammeln sich die Passagiere zum Frühstück in der Messe. Als einer der Letzten betritt der Erste Offizier Antonio Colombo die Messe, schaut sich suchend um und geht dann zielstrebig auf den Tisch zu, an dem Guy Paine und Cliff Hawkings Platz genommen haben.
„Mr. Hawkings, ich habe eine gute Nachricht: Ihre Taschenuhr ist gefunden worden.“
„Na, das wurde aber auch Zeit!“, blafft Hawkings unfreundlich und greift nach der Uhr. Langsam dreht er sie hin und her, mal links herum, mal rechts herum, mustert sie mit kritischem Blick und stellt schließlich empört fest: „Die ist ja völlig verkratzt!“ Er hebt sie an die Nase und verzieht das Gesicht: „Die stinkt ja wie ein Schweinestall!“
Der Erste Offizier verbeißt sich sichtlich ein Schmunzeln. Offenbar bemüht er sich, ruhig und sachlich zu klingen, damit die Situation nicht eskaliert. „Das ist nicht wirklich verwunderlich, denn sie wurde in einer der Schweineboxen im vorderen Laderaum gefunden.“
Hawkings sieht ungläubig auf. „Wie ist sie denn da hingekommen?“
„Keine Ahnung. Einer der Matrosen hat sie gefunden, als wir gestern hier im Hafen die Schweine ausluden.“
„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“ Hawkings ist außer sich und läuft rot an. „Wer ersetzt mir jetzt den Schaden?“
„Erst einmal ist es doch gut, dass sie wieder da ist“, meint Colombo und begibt sich ohne ein weiteres Wort zu seinem Tisch.
Am frühen Nachmittag sitzen Simon und Raj im Schatten des Sonnensegels an Deck und betrachten das Treiben im Hafen. Die Ladearbeiten auf der „Potere di Seduzione“ haben ihren Abschluss gefunden, sodass in der nächsten Stunde die Segel gesetzt werden sollen. Aus Richtung der Messe kommen Mary Garner und Helen Ward zu ihnen hinüber. Sie haben einen Krug mit Zitronenlimonade und mehrere Gläser dabei.
„Herrlich erfrischend“, stellt Mary Garner fest, während sie die Gläser mit der Limonade weiterreicht. Sie trinkt einen Schluck und lehnt sich zufrieden zurück. „Glücklicherweise ist ja Mister Hawkings' Taschenuhr wieder aufgetaucht. Aber wer will schon ein verkratztes, stinkendes Schmuckstück sein Eigen nennen?“ Sie wirft Simon einen verschmitzten, spöttischen Blick zu.
„Tja, Miss Garner, das ist wirklich bedauerlich, aber ich denke, ein guter Uhrmacher wird das schon richten.“
„Vielleicht sollten wir erst einmal klären, wer mir die Uhr entwendet hat und wie sie in einer dieser Schweineboxen am Schiffsbug gelandet ist?“ Die vier zucken überrascht zusammen und wenden ihre Köpfe. Wie aus dem Nichts ist Cliff Hawkings in die Runde getreten und muss ihre letzten Sätze verfolgt haben. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, zieht er einen freien Stuhl zu sich heran und lässt sich neben Simon nieder. „Da geht einem ja so manches durch den Kopf.“ Er wirft einen Blick in die Runde. „War es vielleicht ein Racheakt?“
Bedacht, aber mit bestimmter Stimme fragt Simon zurück: „Ein Racheakt? Warum sollte denn jemand Rache an Ihnen nehmen wollen?“
Hawkings sieht Simon kurz an und richtet dann einen durchdringenden Blick auf Raj. „An der Spitze der Verdächtigen steht für mich Mister Campbell. Ich habe mich naturgemäß geweigert, mit ihm eine Kabine zu teilen, und jetzt wissen wir, dass das nicht unbegründet war! Aus diesem Grund haben Sie mir meine Taschenuhr gestohlen – um sich an mir zu rächen!“
Raj erstarrt und hebt abwehrend die Hände. „Nein, Mister Hawkings, ich habe mit dem Verschwinden Ihrer Uhr nichts zu tun.“
„Ich übrigens auch nicht“, ergänzt Helen Ward, die sich sichtlich ärgert. „Die ganze Situation war für mich sehr peinlich, als ich vom Kapitän und seinen Leuten in der Messe aufgefordert wurde, einer Durchsuchung meiner Kabine zuzustimmen.“
„Das will ich meinen“, stimmt Mary Garner ihr zu. „Helen musste sogar mit ansehen, wie man ihre persönlichen Dinge durchwühlte. Mister Hawkings, dass ist unentschuldbar.“
„Lassen Sie doch dieses unnötige Gequatsche!“, beschwert sich Hawkings wütend. „Sehen Sie denn nicht, dass Campbell das stärkste Motiv hat?“
Für einen Moment herrscht Stille in der Runde. Dann fragt Simon ganz ruhig: „Und warum nicht ich?“
„Sie, Brown? Sie hatten doch gar keine Zeit. Sie sind an dem Abend zusammen mit Miss Garner zum Abendessen in der Messe erschienen.“
„Vielleicht habe ich es ja gemacht, bevor ich Miss Garner getroffen habe …“ Simon sieht den anderen weiterhin ruhig an und nimmt gelassen einen Schluck von seiner Limonade.
„Wie laut soll ich jetzt lachen, Brown? Möglicherweise stecken Sie ja mit Miss Garner unter einer Decke. Ach, ihr Amerikaner seid immer so überheblich!“ Cliff Hawkings macht eine abfällige Handbewegung in Simons Richtung und wendet sich wieder Raj zu: „Nein, Campbell, Sie haben das Motiv, und ich werde es Ihnen beweisen. Bis nach Bombay haben wir noch ein paar Tage. An Ihrer Stelle wäre ich stets wachsam. Wer weiß, was hinter Ihnen geschieht …“ Damit stemmt er sich aus seinem Deckstuhl hoch und verschwindet in Richtung Schiffsheck.
„Ich war es wirklich nicht!“, beteuert Raj energisch. „Ich saß schon vor dir in der Messe, Simon.“
„Das stimmt“, bestätigt Helen Ward. „Dafür gibt es viele Zeugen, und einige von ihnen werden sich erinnern.“
Raj schüttelt fassungslos und traurig den Kopf. „Warum sollte ich mich rächen wollen, nur weil er seine Kabine nicht mit mir teilen will? Ehrlich gesagt, war ich auch nicht begeistert, sie mit ihm teilen zu müssen ...