Bei regnerischem, aber mildem Wetter führt die Reise der „Potere di Seduzione“ vorbei an Brindisi und der Insel ...
Das Essen ist deftig und dem griechischen Wein wird reichlich zugesprochen; insbesondere ein Roter aus der Kotsifali-Rebe hat es ihnen angetan. Er wirkt vollmundig, hat eine zarte rote Beerennote, aber auch spürbare Gerbstoffe und edle Gewürznoten.
Jussuf Qasim wendet sich Raj mit neugierigem Blick zu. „Richard Louis!“, bemerkt er kopfschüttelnd, „damit hätte ich nicht gerechnet. Als Robin und ich die Namen auf der Passagierliste überflogen, teilte er mir mit, dass du ein aus Schottland stammender britischer Offizier wärst. So war ich doch überrascht, als ich dich dann das erste Mal gesehen habe. Verstehe mich nicht falsch, Raj, aber Richard Louis? Du siehst aus wie Raj, der Inder … nicht wie ein typischer Brite.“
Raj wirkt bei Qasims Worten amüsiert und entspannt. „Nun, genauso ist es ja eigentlich auch: Ich habe indische Wurzeln und kein Problem damit, wenn mein Äußeres den einen oder anderen schon mal auf die falsche Fährte führt. Ich erwarte allerdings einen respektvollen Umgang miteinander. Leider gibt es auch viele Cliff Hawkings auf dieser Welt, die einen abschätzig behandeln und einem immer wieder Knüppel zwischen die Beine werfen.“
„Ich habe nachgedacht“, erwidert Jussuf Qasim nun ernster, „du sprichst die englische und die indische Sprache, bist als Richard Louis im Vereinigten Königreich genauso zu Hause wie als Raj in Indien – übrigens eine ausgezeichnete Idee von deinen Eltern, dir für jedes Land einen eigenen Namen zu geben –, außerdem hast du eine Ausbildung genossen, bist Offizier und siehst etwas von der Welt. Das sind beachtliche Leistungen, und du solltest stolz auf dich sein. Ich bin mir sicher, du wirst noch viel erreichen.“
„Danke, Qasim, aber stell dich selbst dabei nicht in den Schatten. Du wurdest ebenfalls zweisprachig erzogen, arbeitest für Waghorn & Co. in London und wirst die größte Stadt der Welt sicher auch einmal persönlich erleben. Du wirst genauso deine Erfahrungen machen und deine Chancen bekommen; du musst sie nur ergreifen.“
Nun klopft auch Robin Frost dem Ägypter anerkennend auf die Schulter. „Oh ja, Qasim, du bist klug und wirst es noch weit bringen“, versichert er. „Mit deinem Namen fällst du überall auf, nur ich kann ihn mir einfach nicht merken.“
„Jussuf Qasim …“, wundert sich Simon. „Wo ist da das Problem?“
„Das ist nur der Anfang“, grinst Robin Frost, „sag’s ihm, Qasim.“
Der junge Ägypter strahlt nun voller Stolz. „Ich bin Jussuf Qasim Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Said al Bilal“, erklärt er.
„Entschuldige, noch einmal ganz langsam“, platzt es aus Raj heraus. „Ich dachte schon, bei mir ist es kompliziert.“
„Ich bin Jussuf Qasim, Sohn meines Vaters Abbas. Hadschi bedeutet, dass er schon einmal als Pilger in Mekka und wiederum Sohn des Hadschi Said aus dem Geschlecht der Bilal war.“
„Wenn du es so erklärst, ist es eigentlich recht gut nachvollziehbar, aber Qasim ist definitiv einfacher.“ Simon erhebt sein Glas, um mit den anderen anzustoßen.
„Übrigens“, fügt der Ägypter noch hinzu, „Qasim bedeutet so viel wie ‚der Teilende‘, also der, der bereit ist, anderen etwas abzugeben.“
Während die Besatzung am nächsten Vormittag alle Hände damit zu tun hat, die Lebensmittelvorräte aufzustocken sowie leere Fässer und Kisten von Bord zu schaffen, versammeln sich die Passagiere zum Frühstück in der Messe. Als einer der Letzten betritt der Erste Offizier Antonio Colombo die Messe, schaut sich suchend um und geht dann zielstrebig auf den Tisch zu, an dem Guy Paine und Cliff Hawkings Platz genommen haben.
„Mr. Hawkings, ich habe eine gute Nachricht: Ihre Taschenuhr ist gefunden worden.“
„Na, das wurde aber auch Zeit!“, blafft Hawkings unfreundlich und greift nach der Uhr. Langsam dreht er sie hin und her, mal links herum, mal rechts herum, mustert sie mit kritischem Blick und stellt schließlich empört fest: „Die ist ja völlig verkratzt!“ Er hebt sie an die Nase und verzieht das Gesicht: „Die stinkt ja wie ein Schweinestall!“
Der Erste Offizier verbeißt sich sichtlich ein Schmunzeln. Offenbar bemüht er sich, ruhig und sachlich zu klingen, damit die Situation nicht eskaliert. „Das ist nicht wirklich verwunderlich, denn sie wurde in einer der Schweineboxen im vorderen Laderaum gefunden.“
Hawkings sieht ungläubig auf. „Wie ist sie denn da hingekommen?“
„Keine Ahnung. Einer der Matrosen hat sie gefunden, als wir gestern hier im Hafen die Schweine ausluden.“
„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“ Hawkings ist außer sich und läuft rot an. „Wer ersetzt mir jetzt den Schaden?“
„Erst einmal ist es doch gut, dass sie wieder da ist“, meint Colombo und begibt sich ohne ein weiteres Wort zu seinem Tisch.
Am frühen Nachmittag sitzen Simon und Raj im Schatten des Sonnensegels an Deck und betrachten das Treiben im Hafen. Die Ladearbeiten auf der „Potere di Seduzione“ haben ihren Abschluss gefunden, sodass in der nächsten Stunde die Segel gesetzt werden sollen. Aus Richtung der Messe kommen Mary Garner und Helen Ward zu ihnen hinüber. Sie haben einen Krug mit Zitronenlimonade und mehrere Gläser dabei.
„Herrlich erfrischend“, stellt Mary Garner fest, während sie die Gläser mit der Limonade weiterreicht. Sie trinkt einen Schluck und lehnt sich zufrieden zurück. „Glücklicherweise ist ja Mister Hawkings' Taschenuhr wieder aufgetaucht. Aber wer will schon ein verkratztes, stinkendes Schmuckstück sein Eigen nennen?“ Sie wirft Simon einen verschmitzten, spöttischen Blick zu.
„Tja, Miss Garner, das ist wirklich bedauerlich, aber ich denke, ein guter Uhrmacher wird das schon richten.“
„Vielleicht sollten wir erst einmal klären, wer mir die Uhr entwendet hat und wie sie in einer dieser Schweineboxen am Schiffsbug gelandet ist?“ Die vier zucken überrascht zusammen und wenden ihre Köpfe. Wie aus dem Nichts ist Cliff Hawkings in die Runde getreten und muss ihre letzten Sätze verfolgt haben. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, zieht er einen freien Stuhl zu sich heran und lässt sich neben Simon nieder. „Da geht einem ja so manches durch den Kopf.“ Er wirft einen Blick in die Runde. „War es vielleicht ein Racheakt?“
Bedacht, aber mit bestimmter Stimme fragt Simon zurück: „Ein Racheakt? Warum sollte denn jemand Rache an Ihnen nehmen wollen?“
Hawkings sieht Simon kurz an und richtet dann einen durchdringenden Blick auf Raj. „An der Spitze der Verdächtigen steht für mich Mister Campbell. Ich habe mich naturgemäß geweigert, mit ihm eine Kabine zu teilen, und jetzt wissen wir, dass das nicht unbegründet war! Aus diesem Grund haben Sie mir meine Taschenuhr gestohlen – um sich an mir zu rächen!“
Raj erstarrt und hebt abwehrend die Hände. „Nein, Mister Hawkings, ich habe mit dem Verschwinden Ihrer Uhr nichts zu tun.“
„Ich übrigens auch nicht“, ergänzt Helen Ward, die sich sichtlich ärgert. „Die ganze Situation war für mich sehr peinlich, als ich vom Kapitän und seinen Leuten in der Messe aufgefordert wurde, einer Durchsuchung meiner Kabine zuzustimmen.“
„Das will ich meinen“, stimmt Mary Garner ihr zu. „Helen musste sogar mit ansehen, wie man ihre persönlichen Dinge durchwühlte. Mister Hawkings, dass ist unentschuldbar.“
„Lassen Sie doch dieses unnötige Gequatsche!“, beschwert sich Hawkings wütend. „Sehen Sie denn nicht, dass Campbell das stärkste Motiv hat?“
Für einen Moment herrscht Stille in der Runde. Dann fragt Simon ganz ruhig: „Und warum nicht ich?“
„Sie, Brown? Sie hatten doch gar keine Zeit. Sie sind an dem Abend zusammen mit Miss Garner zum Abendessen in der Messe erschienen.“
„Vielleicht habe ich es ja gemacht, bevor ich Miss Garner getroffen habe …“ Simon sieht den anderen weiterhin ruhig an und nimmt gelassen einen Schluck von seiner Limonade.
„Wie laut soll ich jetzt lachen, Brown? Möglicherweise stecken Sie ja mit Miss Garner unter einer Decke. Ach, ihr Amerikaner seid immer so überheblich!“ Cliff Hawkings macht eine abfällige Handbewegung in Simons Richtung und wendet sich wieder Raj zu: „Nein, Campbell, Sie haben das Motiv, und ich werde es Ihnen beweisen. Bis nach Bombay haben wir noch ein paar Tage. An Ihrer Stelle wäre ich stets wachsam. Wer weiß, was hinter Ihnen geschieht …“ Damit stemmt er sich aus seinem Deckstuhl hoch und verschwindet in Richtung Schiffsheck.
„Ich war es wirklich nicht!“, beteuert Raj energisch. „Ich saß schon vor dir in der Messe, Simon.“
„Das stimmt“, bestätigt Helen Ward. „Dafür gibt es viele Zeugen, und einige von ihnen werden sich erinnern.“
Raj schüttelt fassungslos und traurig den Kopf. „Warum sollte ich mich rächen wollen, nur weil er seine Kabine nicht mit mir teilen will? Ehrlich gesagt, war ich auch nicht begeistert, sie mit ihm teilen zu müssen.“
In den diesigen Morgenstunden des 7. März 1835 läuft die „Potere di Seduzione“ bei ruhiger See auf die ägyptische Küste bei Alexandria zu. Helle, weiße Häuser mit flachen Dächern reihen sich wie die Perlen einer Kette aneinander; sie sind die ersten Vorboten der großen Stadt, die sich am Horizont abzeichnet. Etwas vorgelegen, als stünde sie mitten im Meer, ragt eine massive Zitadelle mit vier Türmen in die Höhe. Daneben trotzt eine gewaltige militärische Anlage jedem Angreifer; etwas weiter rechts davon nimmt ein Gebäude von beachtlichen Ausmaßen viel Platz an der Wasserfront ein. Dahinter wächst ein gewaltiger Obelisk in den Himmel.
Simon und Raj waren schon früh wach und sitzen auf dem Dach des vorderen Niedergangs, wo sie über den Fortgang der Reise nachsinnen. Unten an Deck taucht Robin Frost auf und schaut zu ihnen auf. „Morgen! Genießen Sie die frische Luft?“
„Ja, herrlich“, antwortet Simon und springt vom Niedergang aufs Deck. Raj tut es ihm nach.
„Sagen Sie, Mr. Frost, wissen Sie, was wir da im Hafen von Alexandria sehen?“
„Sie meinen den quadratischen Bau mit den vier Türmen oben auf dem Kap?“
„Genau. Rechts daneben liegt ein Fort, nehmen wir an.“
„Ja, so ist es“, nickt Robin Frost. „Das ist die Kait-Bey-Zitadelle, die stammt noch aus der Mameluken-Zeit, und rechts daneben liegt das Fort Ada. Wir halten uns rechts und laufen in den alten Hafen ein.“ Er zeigt auf die linke Uferlinie. „Übrigens, das ist die Bucht von Abukir, wo Vizeadmiral Horatio Nelson mit seiner Royal Navy im August 1798 Napoleons französische Mittelmeerflotte besiegte. Auf der rechten Seite des Kaps sehen Sie den Ras el tin, den prachtvollen Palast von Muhammad Ali Pascha, dem Gouverneur von Ägypten. Er wirkt noch viel imposanter, wenn wir in den Hafen einlaufen.“
„Schau dir nur die Ausmaße an“, meint Raj bewundernd. „Genügend Räume für einen großen Harem sind definitiv vorhanden … Ob der Palast auch von innen so gewaltig ist?“
Frost nickt und lehnt sich bequem auf die Reling. „Ich würde sagen, klassisch osmanischer Stil – viel Holz und Gips, mit breiten Dachvorsprüngen und hervorstehenden rechteckigen Fenstern. Die Türen sind mit aufwendigen Schnitzereien versehen. Übrigens: Auf den ersten Blick wirkt Muhammad Ali Pascha mit seinem Turban und seinem prächtigen gezwirbelten Schnurrbart zwar ausgesprochen traditionell, aber das ist er nicht. Ganz im Gegenteil: Er will Ägypten modernisieren und steht europäischen Ideen und Erfindungen recht offen gegenüber.“
„Das klingt ja gerade so, als wären Sie ihm schon begegnet“, bemerkt Raj verwundert.
„Ja, ich durfte Lieutenant Waghorn einmal zu einem Empfang in den Palast begleiten und habe bei der Gelegenheit auch den Gouverneur kennengelernt. Waghorn geht bei ihm ein und aus. Die beiden sind befreundet.“
Eine Weile versenken sich die drei stumm in die Betrachtung der ägyptischen Küste. Dann will Simon wissen: „Noch einmal zurück zu unserer Reise, Frost. Wie geht es weiter, wenn wir im Hafen sind?“
„Es ist jetzt glücklicherweise noch sehr früh am Morgen, sodass wir, wenn alles nach Plan verläuft, in zirka drei Stunden auf einem Kanalboot in Richtung Kairo sitzen. Vorher müssen sowohl das Gepäck als auch die Post entladen und am Zollhaus verzollt werden, was ein paar Stunden in Anspruch nehmen kann. Wir haben es auch schon erlebt, dass wir in Alexandria oder sogar vor den Toren der Stadt übernachten mussten. Für diesen Ausnahmefall sind immer Führer mit Eseln oder leichte Kutschen vor Ort, um die Reisenden zu der einen oder anderen Sehenswürdigkeit zu bringen, damit sie so die Zeit angenehm überbrücken können. Da sind beispielsweise Kleopatras Nadel, ein riesiger Obelisk, oder die Säule des Pompeius, eine beeindruckende, römische Triumphsäule – die höchste außerhalb von Rom und Konstantinopel.“
Nachdem die „Potere di Seduzione“ das Kap mit dem beeindrucken Palast umrundet hat, besteht die nächste Aufgabe darin, im Gedränge der im Westhafen liegenden Schiffe einen Platz am Anleger zu finden. Schließlich verlassen die Passagiere über eine verhältnismäßig breite Gangway das Schiff. Aus dem Augenwinkel erkennt Simon Cliff Hawkings, der dicht hinter dem neben ihm gehenden Raj läuft, zu dicht für Simons Geschmack. Er hat schon das Gefühl, das gleich etwas passieren wird, und so wundert es ihn nicht, als Raj ein paar Schritte später stolpert und nach vorne fällt, wobei er die neben ihnen gehende Mrs. Eltringham ins Wanken bringt. Sie droht zwischen Kaimauer und Schiffsbug zu stürzen. Ohne nachzudenken greift Simon instinktiv nach ihrem Mantelgürtel und zieht sie zu sich heran. Dabei muss er aufpassen, nicht auf den am Boden liegenden Raj zu treten.
„Florence!“, hört er aus der Menge hinter sich den Major rufen. Simon hält die vor Schreck wie erstarrte Mrs. Eltringham fest im Griff und reicht gleichzeitig Raj seine linke Hand, damit der sich an ihr hochziehen kann. Ein paar Schritte noch auf der Gangway, dann haben sie es geschafft. Kaum stehen sie auf der sicheren Kaimauer, springt auch schon der Major heran und schließt seine Frau in die Arme. „Florence, geht es dir gut? Was ist passiert?“
„Das hätte aber arg ins Auge gehen können, Campbell“, ist die herablassende Stimme von Cliff Hawkings zu hören, der zusammen mit Paine an ihnen vorübergeht.
„Mr. Campbell“, wendet sich Major Eltringham aufgebracht an den Lieutnant, „was ist geschehen?“
Raj sieht sich verwirrt und bestürzt um. „Keine Ahnung. Wir waren dabei, die Gangway zu überqueren; rechts von mir ging Simon, links war Ihre Frau. Plötzlich blieb mein rechter Fuß hängen und ich bin nach vorne gestürzt. Dabei muss ich Ihre Frau angestoßen haben … Aber so genau weiß ich das auch nicht … Alles ging so schnell.“
„Mein Gott, Campbell“, regt sich der Major auf, „passen Sie doch auf! Meine Frau hätte jetzt tot sein können!“
Florence Eltringham hat sich von dem Schreck schnell erholt und ihren Mantel wieder zurechtgerückt. Jetzt legt sie ihrem Mann beruhigend eine Hand auf den Arm. „Liebling, Mr. Campbell trifft keine Schuld. Das war alles nur ein dummes Missgeschick.“
„Nein“, mischt sich Simon ein, „zufällig ist hier nichts geschehen. Aus dem Augenwinkel habe ich gesehen, wie Cliff Hawkings überraschend dicht hinter Raj lief. Ich dachte mir schon, dass er etwas im Schilde führen würde, und als Raj stolperte, kam das für mich nicht überraschend. So konnte ich schnell reagieren und Ihre Frau festhalten.“
„Das stimmt“, bestätigt Florence Eltringham. „Ich habe den Zug an meinem Gürtel schon gespürt, als ich noch nicht einmal wusste, was da gerade passiert.“
„Danke, Mr. Brown.“ Major Eltringham beruhigt sich jetzt sichtlich. „Gott sei Dank ist es ja noch einmal gut gegangen. Aber, nebenbei bemerkt, wir sollten die anderen unserer Gruppe nicht aus den Augen verlieren.“ Er legt den Arm um die Taille seiner Frau, um sie zum Weitergehen zu bewegen, doch sie bleibt stur stehen. „Was ist, Florence?“
„Robert George Eltringham, ich möchte noch einmal in aller Deutlichkeit betonen, dass Mr. Campbell keine Schuld trifft!“
Eltringham wirft ihr ein Lächeln zu. „Meine Gattin kann sehr hartnäckig sein“, stellt er fest, „und das meistens zu Recht. Mr. Campbell, es tut mir leid; ich habe Sie zu Unrecht beschuldigt.“
„Das ist schon in Ordnung, Major“, antwortet Raj. „Ihre Gattin kommt für Sie an erster Stelle, das ist selbstverständlich. Ich hätte wahrscheinlich genauso gehandelt wie Sie.“
Eltringham nickt und schüttelt dann unvermittelt den Kopf. „Hawkings, dieser fürchterliche Kerl! Dem müssen wir doch irgendwie Einhalt gebieten können, der kann doch nicht machen, was er will!“
„Ich möchte vorschlagen, dass wir es an dieser Stelle dabei belassen“, merkt Simon beschwichtigend an. „Wie sagte Hawkings doch so treffend: Bis nach Bombay haben wir noch ein paar Tage … “
„Ich denke, dort hinten müssen wir hin“, wechselt Raj das Thema und weist mit seiner ausgestreckten Hand den Weg.
„Mein Gott“, murmelt der Major verwundert, „wo kommen diese vielen Menschen bloß alle her?“
Im hinteren Bereich der Kaianlagen warten Robert Frost und Jussuf Qasim darauf, dass sich die Reisegruppe nach dem Verlassen des Schiffes zusammenfindet. Überraschenderweise dauert es gerade einmal anderthalb Stunden, bis die Verzollung abgeschlossen ist, sodass die Reisenden zügig nebst Gepäck und Post die Strecke von etwa zwei Meilen bis zum Mahmudiyya-Kanal gebracht werden. Während Simon und Raj in Begleitung einiger anderer Mitreisender die Strecke zu Fuß bewerkstelligen, sind manche andere über das Beförderungsangebot mittels Eseln und Kutschen ausgesprochen erleichtert. Die Postboxen und das Gepäck werden auf einem Fuhrwerk transportiert.
Am Kanal angekommen, fällt Simons Blick zuerst auf robuste Kaimauern aus dicken Felssteinen, die ein breites Kanalbecken umranden, in dem auch größere Schiffe ohne Probleme wenden können. Ebenso wie im Mittelmeerhafen wimmelt es hier von Menschen, die an den Mauern befestigte Boote be- oder entladen. Viele der größeren weißen Flachdachgebäude um die Kaianlagen herum werden augenscheinlich als Lagerhäuser verwendet. Hier und da sind alte, fast schon historisch anmutende mechanische Kräne in Aktion. Raj reißt Simon durch einen Schubser aus seinen Gedanken und lenkt seinen Blick auf die Reisegruppe und mehrere Kanalboote vor ihnen, sogenannte Feluken, die sie erwarten. Diese Boote verfügen über einen Mast mit Lateinersegel und werden von Pferden gezogen, die dicht am Ufer auf einem ausgetretenen Treidelpfad laufen.
Viele helfende Hände sorgen dafür, dass die Postboxen und das Gepäck zügig verladen werden und sich die Boote in Bewegung setzen können. Simon freut sich, dass er zusammen mit Raj, den Eltringhams und den Damen Garner, Ward und Patel sowie Qasim auf dem letzten der drei Boote landet. Von Bequemlichkeit kann an Bord dieser Feluken allerdings keine Rede sein. Die Passagiere drängen sich im rückwärtigen Bereich an beiden Seiten der Bordwand auf abgewetzten hölzernen Planken. Qasim erklärt ihnen, dass sie die Fahrt auf dem 45 Meilen langen Mahmudiyya-Kanal in ungefähr zwölf Stunden bewerkstelligen sollten und etwa gegen halb zehn Uhr abends ein kleines Dorf namens Atfeh erreichen würden.
Immer wenn ihnen auf der Reise ein anderes Boot entgegenkommt, springen Qasim und Simon oder Raj auf und heben mit einer gegabelten, langen Holzstange das Schleppseil an, sodass das andere Boot passieren kann.
„Huch!“, ruft Ruby Patel plötzlich auf.
Ihr Verhalten lässt auch Mary Garner hochschrecken. „Was ist passiert, meine Liebe?“
„Irgendetwas hat meine rechte Wade berührt, ist quasi daran vorbeigestrichen.“
Mary Garner beugt sich vor, um einen raschen Blick unter die Sitzbank zu werfen, kann allerdings nichts Auffälliges bemerken. Der Bootsführer am Ruder, der ihre Bewegung bemerkt hat, brummt mit seiner rauen Stimme etwas in arabischer Sprache in seinen Bart.
Alle Augen richten sich fragend auf Qasim, der nur mit den Achseln zuckt.
„Was hat er gesagt, Qasim?“, will Major Eltringham wissen.
Ihrem Begleiter ist die Sache sichtlich unangenehm; er will nicht so ganz mit der Sprache herausrücken. „Wir haben Damen an Bord …“, druckst er herum.
„Qasim, was hat er genau gesagt?“, insistiert der Major. „Lassen Sie sich nicht bitten!“
Ihr Begleiter seufzt. „Könnte eine Ratte gewesen sein – er transportiert mit seiner Feluka ab und zu Getreide und Gemüse.“
„Ratten?!“ Helen Ward reißt die Augen entgeistert auf.
Simon hat eine Idee. „Qasim, frag den Bootsführer doch bitte mal, wann er das letzte Mal Getreide oder Gemüse gefahren hat“, schlägt er vor, woraufhin Qasim und der Mann am Ruder einige Worte wechseln.
„Vier bis sechs Wochen ist das her“, erklärt ihr Begleiter schließlich.
„Meine Damen, Sie müssen sich keine Sorgen machen“, erklärt Simon schmunzelnd. „Die meisten Ratten haben das Schiff bereits verlassen.“
„Sie können Mr. Brown Glauben schenken – der bereist gewöhnlich die Weltmeere“, ergänzt Raj zufrieden.
Aber Mary Garner beruhigt das noch nicht so recht. „Sie haben gut reden“, meint sie spitz. „Schauen Sie sich mal genauer um, dann werden Sie in den Ritzen des Schiffes allerlei Ungeziefer entdecken.“
„Die kleinen Dinger werden vor uns mehr Angst haben als wir vor ihnen.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr“, seufzt Mary Garner und versucht nun sichtlich, sich mit der Lage abzufinden. Als Nächstes holt sie ein Tuch aus ihrer Tasche, um es sich über den Kopf zu legen. „Die Sonne scheint heute erbarmungslos, obwohl es gar nicht so heiß scheint …“
Qasim betrachtet sie prüfend. „Bedecken Sie lieber ihre Haut, Sie sind die intensive Sonne nicht gewöhnt. Ein Sonnenbrand kann fürchterlich sein.“
Die Reisenden konzentrieren sich nun wieder mehr auf ihre Umgebung, die recht abwechslungsreich ist. Auf beiden Seiten des Kanals zieht sich ein breiter grüner Streifen hin, auf dem eine üppige Vegetation gedeiht. Qasim erklärt ihnen, dass dort unter anderem Dattelfeigen, Johannisbrotbäume, Nilakazien, Maulbeerfeigen, Papyrus und Bambusrohr wachsen. Manchmal ziehen einzelne Hütten, Häuser oder kleine Siedlungen an ihnen vorbei. Häufig führen Stege ins Wasser, an denen Boote vertäut sind, Kinder spielen am Ufer, Frauen schrubben ihre Wäsche und winken zu ihnen herüber. Hinter den grünen Streifen beginnt die Wüste, eine schier unendliche öde Landschaft aus feinstem gelbem Sand.
Stunde für Stunde verbringen die Passagiere auf den unbequemen Holzplanken, eng nebeneinandergedrängt. Von Zeit zu Zeit machen immer wieder mit Bast ummantelte, mit Wasser gefüllte Flaschen die Runde. Alle sind sehr erleichtert, als am späten Abend in der Dunkelheit einzelne Lichter aufscheinen, die sich als das kleine Dorf Atfeh herausstellen. Hier endet der Mahmudiyya-Kanal und die Reisenden müssen noch etwa dreihundert Meter über Wüstensand zurücklegen, bis sie den Nil erreichen, wo sie an Bord eines der beiden am Anleger liegenden Nilschiffe gehen können.
Dort gesellen sich zwei in weiße Gewänder gekleidete Männer zu Qasim. Er erklärt den Reisenden, dass sich immer zwei Personen eine kleine Kabine im hinteren Teil des Schiffes zu teilen hätten. Diese Kabinen sind eher enge Verschläge, machen aber einen sauberen Eindruck. Über den Kojen baumeln große engmaschige Moskitonetze, die Simon von anderen Reisen her kennt, hier in Ägypten aber nicht erwartet hatte. Auf seinen verwunderten Blick in Richtung Raj antwortet dieser nur gelassen: „Sicher ist sicher!“
Die Reisenden finden sich auf dem von einem großen Verdeck komplett überdachten Oberdeck, auf dem bunte Lampions für ausreichend Licht sorgen, zu einem späten Abendessen ein. Auf den gedeckten Tischen präsentieren sich Leckereien wie Couscous, Bulgur, Hirse und Datteln sowie eingelegtes Gemüse, kombiniert mit einladend angerichtetem Ziegen- und Hühnchenfleisch. So geht auf sehr angenehme Weise ein langer, äußerst anstrengender Tag zu Ende.
Am nächsten Morgen macht sich die Sonne wie jeden Tag schon früh auf den Weg, den blauen, wolkenlosen Himmel zu erklimmen, und schon beim Frühstück verbreitet sie eine erstaunliche Wärme. Das schattenspendende Verdeck über dem Oberdeck erweist sich bereits nach kurzer Zeit als ausgesprochen sinnvolle Errungenschaft.
„Qasim, hast du einen Augenblick?“, fragt Simon, der mit Raj und den Hodgsons beim Frühstück sitzt.
„Guten Morgen“, grüßt der Mitarbeiter von Waghorn und Co. „Was gibt’s?“
„Ach, setzen Sie sich doch ein paar Minuten zu uns“, bittet Diana Hodgson freundlich, ihre Teetasse in der Hand. Thomas Hodgson zieht einen unbesetzten Stuhl vom Nebentisch heran, auf den sich Qasim niederlässt, räuspert sich kurz und meint: „Qasim, sagen Sie uns: Ist unser Schiff typisch für den Nil? Es sind uns schon einige dieser Schiffe begegnet.“
„Ja, ganz typisch. Diese Boote nennen sich Dahabiya; sie haben in der Regel zwei Masten mit Segeln, einen höheren vorne und einen kürzeren hinten. Vorne haben wir ein kleines Deck; dort lagern auch die Ruder, die allerdings nur bei Windstille benötigt werden. Dahinter kommen die Küche, ein Vorratsraum und die Kajüte mit den Kabinen. Das Gepäck liegt im niedrigen Unterdeck. Hier auf dem Oberdeck spielt für Sie als Reisende die eigentliche Musik. Man ist an der frischen Luft, ist durch das Verdeck vor der Sonne geschützt, und die Landschaft Ägyptens zieht langsam an einem vorüber – eine sehr entspannte Art zu reisen.“
„Ja, so kann man es aushalten“, stellt Diana Hodgson zufrieden fest. „Dennoch: Wie lange werden wir bis Kairo benötigen?“
„Etwa vier Tage, wenn der Wind günstig steht.“ Qasim wendet den Kopf und zeigt zum rechten Nilufer. „Schauen Sie, dort am Ufer – die Krokodile, die in der Sonne dösen. Die werden Ihnen immer häufiger begegnen, je weiter wir den Nil hinaufsegeln. Also aufgepasst beim Baden.“
Thomas Hodgson runzelt die Stirn. „Wie groß werden diese Krokodile denn, und wann stellen sie für uns Menschen eine Gefahr dar?“
„Ich würde sagen, etwa drei Meter, und ja, zu einer Bedrohung werden sie für uns, wenn wir in ihrer Nähe ins Wasser gehen. Sie wirken am Ufer träge, aber wenn sie Beute wittern, dann sind sie ausgesprochen schnelle, geschickte und lautlose Jäger.“ Qasim beginnt zu lachen und ergänzt: „Was sie zu beißen bekommen, ist meistens erledigt, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Meistens“, fügt Simon hinzu, schiebt sein rechtes Hosenbein bis zum Knie hoch und dreht seine Wade nach außen.
„Was ist das denn für eine große Wunde?“ Qasim beugt sich zu Simons Wade herunter, um die große Narbe dort genauer zu betrachten. „Ist das etwa ein Krokodilbiss?“
„Ja, auf meiner ersten großen Fahrt waren wir unter anderem auf Jamaika, um Rum im Landesinneren zu kaufen. Dazu sind wir in kleinen Booten den Black River hinauf zu einer Brennerei gefahren. Auf der Rückfahrt ist der Matrose Sullivan aus dem Boot gefallen und sofort ist ein Krokodil auf ihn los. Ich bin ins Wasser gesprungen, um ihm zu helfen, dabei hat auch mich ein Krokodil erwischt … von hinten. Wie Sie sehen: Ich bin am Leben, habe aber ein sichtbares Andenken und eine lebenswichtige Erfahrung gemacht.“
„Was ist aus dem Matrosen geworden, Sullivan?“, fragt Thomas Hodgson mit ergriffener Stimme.
„Der hat es nicht überlebt – Blutvergiftung.“
Diana Hodgson atmet tief durch und versucht ein etwas zittriges Lächeln. „Dann ruhen wir wohl besser in unseren Deckstühlen, was, Liebling?“
In den folgenden Tagen ergeben sich auf dem Oberdeck allerlei interessante Gespräche zwischen den Reisenden, und so lernt man sich besser kennen und schätzen – mit Ausnahme der Herren Hawkings und Paine, die die meisten Reisenden nach Möglichkeit meiden.
Am frühen Morgen des 12. März nimmt die Häuserdichte am Ufer deutlich zu und so ahnen die Reisenden beim Frühstück, dass sie ihrem Ziel Boulac, dem Hafen von Kairo, näherkommen. Ein paar Stunden später erreichen sie den Hafen am östlichen Nilufer, in dem unzählige kleine und mittelgroße Schiffe liegen.
Auf Wunsch von Robin Frost versammeln sich alle Reisenden am Anleger. „Meine Damen und Herren, wir haben unser Ziel Kairo fast erreicht. Bis jetzt ist unsere Reise tadellos verlaufen und wir hoffen, dass das auch so bleibt. Dazu möchte ich Sie bitten, Qasim und mich nicht aus den Augen zu lassen. Wir werden gleich mithilfe der dort drüben wartenden Esel, Kutschen und Lastkarren die zwei Meilen bis ins Zentrum von Kairo zurücklegen. Bitte behalten Sie nur das Gepäck bei sich, welches sie in den nächsten vier Tagen beim Durchqueren der Wüste unbedingt benötigen. Das restliche Gepäck und die Post kommen auf die Lastkarren dort drüben und werden von der ‚Egyptian Transit Company‘ übernommen, einem Unternehmen des Pascha, und direkt nach Suez gebracht. In Kairo werden wir zunächst unsere Zimmer im ‚Hotel des Anglais‘ beziehen und auch dort speisen. Übrigens, schon Napoleon Bonaparte nächtigte dort.“
Durch die engen Gassen von Boulac geht es über staubige Wege bis vor die Tore Kairos. Im Innern der Stadt reihen sich mehrstöckige Prachtbauten, Paläste und Moscheen an heruntergekommene Häuser und sogar Ruinen. Vor vielen Gebäuden haben Händler Zeltdächer angebracht, unter denen sie ihre Waren anbieten. An windgeschützten Stellen, vorwiegend in Hausecken, liegen immer wieder Haufen von feinem Wüstensand. Je näher die Reisegruppe dem Zentrum kommt, desto mehr Menschen bevölkern Straßen und Wege. Männer in bunten, fußlangen Gewändern mit Turbanen auf dem Kopf und dichten, langen Bärten im Gesicht eilen an ihnen vorüber oder stehen diskutierend zusammen. Kinder spielen in den Straßen und Frauen in farbenprächtigen Gewändern, manche mit Kopftüchern, gehen ihren eigenen Beschäftigungen nach. Schwer bepackte Esel und Dromedare transportieren Lasten, aber es gibt auch Pferde, die von Reitern durch die Straßen gelenkt werden.
Nach einem etwa einstündigen Gang durch die Stadt voller Eindrücke einer faszinierenden anderen Welt erreichen sie über eine breite Treppe und eine gut besuchte Terrasse das Eingangsportal des „Hotel des Anglais“. Auf der Terrasse genießen augenscheinlich Menschen aus allen Teilen der Erde gemeinsam ihren Tee und ihre Speisen, spielen Karten oder Brettspiele. In der eindrucksvollen Eingangshalle des Hotels ragen links und rechts der bemerkenswerten Treppe gewaltige Palmen bis in die oberen Stockwerke.
Nachdem die Zimmer bezogen sind und ein ausgiebiges Bad die müden Glieder entspannt und den Wüstensand abgewaschen hat, trifft man sich zum gemeinsamen Abendessen im Restaurant des Hotels. Vor dem Essen erklärt Robin Frost den Reisenden, was sie in den nächsten vier Tagen zu erwarten haben, denn diese Zeit soll die Durchquerung der Wüste auf dem 84 Meilen langen Karawanenweg von Kairo bis Suez in Anspruch nehmen. Nach einem reichhaltigen Menü werden noch Kaffee und Whisky serviert und mit der Gewissheit eines frühen Aufbruchs am folgenden Tag endet der Abend zeitig.
Wenn ich heute an diesen Teil der Reise zurückdenke, sind es vor allem zwei Personen, die ich mit dem Wort „Respekt“ in Verbindung bringe – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Da war auf der einen Seite Cliff Hawkings, eine völlig respektlose Person, der immer wieder neue Schlechtigkeiten einfielen, und auf der anderen Seite Lieutenant Waghorn, der im Begriff war, mit seiner Overland Route ein Unternehmen auf die Beine zu stellen, dem die Zukunft gehören könnte. Er verkürzte die bisherige Reiseroute von London um Südafrika herum bis nach Bombay um über 5.000 Meilen und die Reisezeit um mehrere Monate. Seine Energie, sein Geschick, seine Diplomatie und seine Überzeugungsfähigkeit, mit denen er über Grenzen hinweg in verschiedenen Kulturkreisen seine Ziele verfolgte, verdienten meinen allerhöchsten Respekt.