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6.6 Durch die Wüste

„Was hat Mr. Frost gerade gesagt – wo sind wir jetzt genau?“ Florence Eltringham dreht sich einmal um sich selbst ...

„Was hat Mr. Frost gerade gesagt – wo sind wir jetzt genau?“ Florence Eltringham dreht sich einmal um sich selbst und lässt ihren Blick umherschweifen. In ihrer Nähe fallen eine Menge aus Stein gemeißelte, prachtvolle kleine Gebäude auf, die teils mit eindrucksvollen Kuppeln versehen sind, teils vollständig in gekalktem Weiß herausstechen oder schlicht sandsteinfarben in der Sonne schimmern. Die Reisenden waren am Morgen früh aufgestanden und hatten sich nach dem Frühstück auf der Terrasse des „Hotel des Anglais“ eingefunden. Dort hatte Lieutenant Frost sie darüber informiert, dass man zeitnah aufbrechen werde, um sich zum Ausgangspunkt der nächsten Reiseetappe zu begeben. Für manche der Reisenden wäre es wahrscheinlich ein ausgesprochen mystischer Ort. Ein Teil der Reisegruppe hatte die etwa zwei Meilen in östlicher Richtung zu Fuß hinter sich gebracht, während andere auf die vor der Terrasse des Hotels wartenden Esel zurückgriffen. Das Gepäck wurde per Fuhrwerk transportiert.
„Wir sind vor der ‚Stadt der Toten‘, Mrs. Eltringham“, erklärt Simon nun hilfsbereit. „So nennen die Kairoer ihren bewohnten Friedhofsbezirk mit seinen kunstvoll gestalteten Mausoleen, Tausenden von Gräbern und ärmlichen Behausungen der hier lebenden Menschen. Hier beginnt unser Abenteuer …“, er atmet einmal tief durch, „… die Durchquerung der Wüste.“ Für Simon ist es ein freudig-gespanntes Aufatmen: Endlich geht die Reise weiter, und die Wüste zu sehen ist für ihn etwas Besonderes.
Ein paar Schritte von ihnen entfernt ist eine größere Anzahl an Kamelen, Pferden und Eseln versammelt, die von den Führern und Begleitern der Egyptian Transit Company mit Packtaschen, Zeltstangen und Postboxen beladen werden. Mittendrin warten die Reisenden, gespannt auf das, was sie in der Wüste erleben werden.
Florence Eltringham verschränkt unsicher die Arme hinter ihrem Rücken. „Robert spricht gerade mit Mr. Frost, daher kann ich ihn nicht fragen. Mr. Brown – wir sollen auf Eseln durch die Wüste reiten? Ist das deren Ernst?“
Simon muss schmunzeln. „Ich denke, Sie können auch ein Dromedar oder ein Pferd bekommen, wenn Ihnen das mehr zusagt.“
„Um Gottes Willen, Mr. Brown, ich habe noch nie auf einem Kamel gesessen!“
„Ich auch nicht“, versucht Simon sie zu beruhigen. „Aber so, wie ich die Sache sehe, wissen unsere Führer genau, was zu tun ist.“
„Arbeiten die auch wirklich alle für den Pascha?“, fragt Mrs. Eltringham ängstlich. „Ich meine nur … Einige von ihnen machen auf mich keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck … Die sind so mit Tüchern und Schals zugehängt, das verängstigt mich. Man kann nur noch ihre Augen erkennen – außerdem sind sie alle bewaffnet.“
„Wenn es die Aufgabe dieser Männer ist, tagaus, tagein wertvolle Waren und Reisende durch die Wüste zu transportieren, dann sollten sie sich vor der gnadenlosen Saharasonne und uns alle vor Überfällen schützen können. Machen Sie sich keine Sorgen, Waghorn & Co. führen diese Reisen doch regelmäßig durch.“
„Ich verstehe“, nickt die Offiziersgattin immer noch ein wenig zaghaft, „danke.“
Kaum eine Stunde später setzt sich die Reisegesellschaft in Bewegung. Während Robin Frost, Major Eltringham und Raj ein Pferd zugeteilt bekommen, reiten Simon und Qasim wie die überwiegende Anzahl der Führer auf einem Dromedar. Zügig hat Qasim Simon mit den wichtigsten Kenntnissen im Umgang mit diesen ruhigen, majestätisch wirkenden Tieren vertraut gemacht, und so schaukelt Simon sanft im Takt des Dromedars hin und her. Die meisten Frauen und die älteren Reisenden sitzen auf Eseln, die einen bequemen Sessel mit Armlehne tragen, der auf ein Tragegestell geschnallt wurde. Jeweils fünf Esel sind mit einem Seil aneinandergebunden und werden von einem Begleiter in einer Reihe geführt. Auf den Tragegestellen weiterer Esel sind Zelte, Feldbetten und Kisten mit Proviant befestigt.
Zunächst geht es an vereinzelten, schlichten Häusern und Hütten vorbei, die vermutlich noch zur Stadt Kairo gehören, bis die Reisegruppe die Zivilisation gänzlich hinter sich gelassen hat. Der Weg führt zwischen Sanddünen hindurch; hier und da ragen schroffe Felsen in den hellblauen Himmel, der sich völlig wolkenlos zeigt und von dem unablässig die Sonne herabstrahlt. Die Temperaturen sind für die Jahreszeit recht akzeptabel, und so geht es Stunde um Stunde durch eine triste, monotone Landschaft aus feinkörnigem Sand.
Schließlich erreicht die Reisegesellschaft eine alte Hütte oder, besser gesagt, einen hölzernen Verschlag, der als Rastplatz dient. Einige der Begleiter machen sich unverzüglich daran, zwei zusätzliche Zelte aufzustellen, um den Reisenden während der Pause Schatten zu gewähren. Nach einer Stärkung mit Speisen und Getränken macht sich die Gesellschaft schon nach etwas mehr als zwei Stunden an die zweite Teilstrecke des Tages. Endlos zieht sich der trostlose Weg durch die Wüste, bis ihnen zur Abwechslung eine lange Karawane aus schwer beladenen Dromedaren entgegenkommt, die mit Seilen miteinander verbunden sind. Wie sich herausstellt, gehören sie einer Gruppe von Berbern, die als nomadische Händler im nordafrikanischen Raum unterwegs sind.
Gegen Abend erreicht die Gruppe, etwa zwanzig Meilen von Kairo entfernt, ein größeres, solide wirkendes Gebäude, an das sich ein Stall anschließt. Das Ensemble wirkt relativ neu und ist in einem guten Zustand; es gibt zwei öffentliche Räume, einen für die Damen und einen für die Herren, zwei private Räumlichkeiten und einen größeren Raum für Führer und Bedienstete, an den sich eine kleine Küche anschließt.
„Hier, meine Damen und Herren, werden wir nächtigen“, erklärt Robin Frost, nachdem sich die Reisenden in einem der öffentlichen Räume eingefunden haben, während die Begleiter die Tiere versorgen.
„Ich dachte schon, wir müssten unter freiem Himmel schlafen“, lässt sich Cliff Hawkings hören, „aber das hier erscheint mir durchaus passabel.“
„Dann machen Sie es sich gemütlich“, meint Robin Frost und ergänzt: „Waghorn & Co. arbeiten zusammen mit der Firma Messrs. Hill & Raven sowie dem Pascha daran, sieben Haltestellen in der Wüste einzurichten, um die anstrengende Wüstenroute für die Reisenden so erträglich wie möglich zu gestalten. Aber, wie gesagt, wir arbeiten noch daran.“
„Tja, Hauptsache, Sie werden auch fertig“, erwidert Hawkings abfällig. „Apropos wohlfühlen: Wann können wir unser Bad nehmen?“
Mary Garner zieht genervt die Augenbrauen in die Höhe und bemerkt schnippisch: „Mr. Hawkings, vor Suez wird das wohl nichts mit dem Bad. Aber darauf könnten Sie auch selber kommen, wenn Sie ihr Gehirn auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentrieren würden, anstatt immer nur Schändliches zu denken.“
Schlagartig dreht sich der schwergewichtige Engländer in Mary Garners Richtung und schaut in zwei zornige Augen. „Was fällt Ihnen ein, Miss Garner, jetzt wollen auch Sie sich noch mit mir anlegen? Ich versichere Ihnen, Sie ziehen den Kürzeren.“
„Nein, Mr. Hawkings, ich werde mich mit Ihnen nicht – wie sagten Sie doch gleich? – anlegen. Sie sind es gar nicht wert, dass ich mich mit Ihnen beschäftige!“
Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich auf der Stelle um und verlässt den Raum, während ihr Cliff Hawkings hinterherruft: „Sie werden noch sehen, was Sie davon haben!“
Die meisten anderen der Reisenden blicken entweder betreten zu Boden oder wenden sich hastig ab, um sich in den vorhandenen Räumlichkeiten so gut wie möglich einzurichten.

Am nächsten Morgen macht sich die Reisegesellschaft nach einem zeitigen Frühstück wieder auf den Weg durch die schier endlose Wüste. Bei jedem Schritt im feinen Wüstensand gibt der Boden unter den Stiefeln ein wenig nach, als würde man einsinken; dadurch gestaltet sich das Gehen viel kraftraubender als auf festem Boden. Als die Gesellschaft nach einem längeren beschwerlichen Anstieg auf einer riesigen Sanddüne steht, offenbart sich ihren Teilnehmern die unendliche Weite der Sahara. In der Ferne ist etwas in der Art einer Schlange zu erkennen – vermutlich eine weitere Karawane, die sich langsam in ihre Richtung bewegt.
Gegen Mittag kommt Wind auf, und was zunächst als schwaches, angenehmes Lüftchen beginnt, nimmt im Laufe des Nachmittags an Intensität und Lautstärke deutlich zu. Der Wind treibt den Wüstensand wie kleine Wellen vor sich her, ebenso wie ab und an trockene Bündel von Gestrüpp. Allmählich beginnt der Sand unangenehm in den Augen zu brennen; die Führer machen Halt und beginnen sich lautstark mit Robin Frost und Qasim zu besprechen.
„Was meinen Sie, was da vor sich geht?“ Florence Eltringham schaut verunsichert von ihrem Esel zu Simon hinauf, der geduldig im Sattel seines Dromedars wartet. Im nächsten Moment stoßen Major Eltringham und Raj zu ihnen.
„Wie schätzen Sie die Lage ein, Mr. Campbell?“, wendet sich der Major an Raj.
„Der Wind wird immer stärker“, meint der Offizier. „Wir müssen uns wahrscheinlich auf einen Sturm vorbereiten.“
Simon sieht sich aufmerksam um. „Einen Sturm in der Wüste kann ich überhaupt nicht einschätzen. Auf dem Meer wüsste ich, was zu tun ist.“
Major Eltringham nickt mit bedenklicher Miene. „Mal sehen, was Frost und Qasim uns zu sagen haben, aber ich denke, wir sollten sehen, dass wir ein festes Dach über den Kopf bekommen.“
„Das wäre wünschenswert …“, murmelt Raj und wirkt dabei nicht ganz überzeugt.
Einige Minuten später setzt sich der Tross wieder in Bewegung. Während Lieutenant Frost an der Spitze bleibt, lässt sich Qasim auf seinem Dromedar zurückfallen und erklärt den Reisenden, dass mit einem Habub, einem Wüstensturm, zu rechnen sei und man daher versuchen würde, so schnell wie möglich die nächste Unterkunft zu erreichen. Alle Reisenden sollen Mund und Nase mit Tüchern abdecken, um sich vor dem Sand zu schützen. Mit zunehmender Windstärke liegt ein zarter Schleier von Wüstenstaub in der Luft, der die Konturen der Umgebung auf bizarre Weise verschwimmen lässt und die Sicht erschwert. Die Führer sind mittlerweile gezwungen, sich bei dem peitschenden Wind laut schreiend zu verständigen. Sie treiben die Tiere zu einem höheren Tempo an.
„Qasim, was haben die Männer von der Egyptian Transit Company gesagt?“, erkundigt sich Raj.
„Dass wir gut vorankommen und noch etwas über eine Stunde benötigen, bis wir in Sicherheit sind.“
Schritt um Schritt geht es voran und unvermittelt steht die Gruppe erneut oben auf einer Sanddüne, die einen Blick in die Umgebung ermöglicht.
„Mein Gott, dort ist eine Wand, eine Wand von aufgewirbeltem Sand! Sie kommt von der Seite auf uns zu“, stößt Major Eltringham erschrocken aus. Simon folgt seinem Blick und was er da sieht, bereitet auch ihm Unbehagen. Wie ein riesiger sandfarbener Wattebausch schiebt sich eine undurchsichtige Wand unablässig in ihre Richtung. Sie reicht vom Wüstenboden hinauf bis zu den tief hängenden, bedrohlich wirkenden Wolken darüber.
Simon sieht zu Qasim, der wieder neben Robin Frost an der Spitze des Zuges reitet und sich über den Wind hinweg schreiend mit ihm bespricht. Erneut lässt er sich zurückfallen und scheint nun jeden der Reisenden einzeln anzusprechen. Als er sich neben Simon und Raj befindet, erklärt er ihnen: „Achtet auf die anderen. Wir müssen jetzt eng zusammenbleiben und immer Anschluss halten. Nicht, dass jemand verloren geht; das könnte sehr gefährlich werden. Wenn der Habub uns voll erwischt, werden wir absteigen und die Tiere führen müssen, da wir dann kaum noch Sicht haben und unsere Tiere in Panik geraten könnten.“
Raj nickt ihm beruhigend zu. „In Ordnung, Simon und ich halten die Augen offen … so gut es eben geht.“
Unter enormen Anstrengungen kämpft sich die Reisegesellschaft durch den Sandsturm. Ohrenbetäubender Lärm unterbindet jedes Wort, und mittlerweile sieht Simon kaum noch die Hand vor seinen Augen, die er zwischenzeitlich immer wieder schließen muss, um sie vor den durch die Luft peitschenden Sandkörnern zu schützen. Der Sturm bläst den feinen Sand durch jede Öffnung und jede Ritze der Kleidung bis auf die bloße Haut...