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6.6 Durch die Wüste

„Was hat Mr. Frost gerade gesagt – wo sind wir jetzt genau?“ Florence Eltringham dreht sich einmal um sich selbst ...

„Was hat Mr. Frost gerade gesagt – wo sind wir jetzt genau?“ Florence Eltringham dreht sich einmal um sich selbst und lässt ihren Blick umherschweifen. In ihrer Nähe fallen eine Menge aus Stein gemeißelte, prachtvolle kleine Gebäude auf, die teils mit eindrucksvollen Kuppeln versehen sind, teils vollständig in gekalktem Weiß herausstechen oder schlicht sandsteinfarben in der Sonne schimmern. Die Reisenden waren am Morgen früh aufgestanden und hatten sich nach dem Frühstück auf der Terrasse des „Hotel des Anglais“ eingefunden. Dort hatte Lieutenant Frost sie darüber informiert, dass man zeitnah aufbrechen werde, um sich zum Ausgangspunkt der nächsten Reiseetappe zu begeben. Für manche der Reisenden wäre es wahrscheinlich ein ausgesprochen mystischer Ort. Ein Teil der Reisegruppe hatte die etwa zwei Meilen in östlicher Richtung zu Fuß hinter sich gebracht, während andere auf die vor der Terrasse des Hotels wartenden Esel zurückgriffen. Das Gepäck wurde per Fuhrwerk transportiert.
„Wir sind vor der ‚Stadt der Toten‘, Mrs. Eltringham“, erklärt Simon nun hilfsbereit. „So nennen die Kairoer ihren bewohnten Friedhofsbezirk mit seinen kunstvoll gestalteten Mausoleen, Tausenden von Gräbern und ärmlichen Behausungen der hier lebenden Menschen. Hier beginnt unser Abenteuer …“, er atmet einmal tief durch, „… die Durchquerung der Wüste.“ Für Simon ist es ein freudig-gespanntes Aufatmen: Endlich geht die Reise weiter, und die Wüste zu sehen ist für ihn etwas Besonderes.
Ein paar Schritte von ihnen entfernt ist eine größere Anzahl an Kamelen, Pferden und Eseln versammelt, die von den Führern und Begleitern der Egyptian Transit Company mit Packtaschen, Zeltstangen und Postboxen beladen werden. Mittendrin warten die Reisenden, gespannt auf das, was sie in der Wüste erleben werden.
Florence Eltringham verschränkt unsicher die Arme hinter ihrem Rücken. „Robert spricht gerade mit Mr. Frost, daher kann ich ihn nicht fragen. Mr. Brown – wir sollen auf Eseln durch die Wüste reiten? Ist das deren Ernst?“
Simon muss schmunzeln. „Ich denke, Sie können auch ein Dromedar oder ein Pferd bekommen, wenn Ihnen das mehr zusagt.“
„Um Gottes Willen, Mr. Brown, ich habe noch nie auf einem Kamel gesessen!“
„Ich auch nicht“, versucht Simon sie zu beruhigen. „Aber so, wie ich die Sache sehe, wissen unsere Führer genau, was zu tun ist.“
„Arbeiten die auch wirklich alle für den Pascha?“, fragt Mrs. Eltringham ängstlich. „Ich meine nur … Einige von ihnen machen auf mich keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck … Die sind so mit Tüchern und Schals zugehängt, das verängstigt mich. Man kann nur noch ihre Augen erkennen – außerdem sind sie alle bewaffnet.“
„Wenn es die Aufgabe dieser Männer ist, tagaus, tagein wertvolle Waren und Reisende durch die Wüste zu transportieren, dann sollten sie sich vor der gnadenlosen Saharasonne und uns alle vor Überfällen schützen können. Machen Sie sich keine Sorgen, Waghorn & Co. führen diese Reisen doch regelmäßig durch.“
„Ich verstehe“, nickt die Offiziersgattin immer noch ein wenig zaghaft, „danke.“
Kaum eine Stunde später setzt sich die Reisegesellschaft in Bewegung. Während Robin Frost, Major Eltringham und Raj ein Pferd zugeteilt bekommen, reiten Simon und Qasim wie die überwiegende Anzahl der Führer auf einem Dromedar. Zügig hat Qasim Simon mit den wichtigsten Kenntnissen im Umgang mit diesen ruhigen, majestätisch wirkenden Tieren vertraut gemacht, und so schaukelt Simon sanft im Takt des Dromedars hin und her. Die meisten Frauen und die älteren Reisenden sitzen auf Eseln, die einen bequemen Sessel mit Armlehne tragen, der auf ein Tragegestell geschnallt wurde. Jeweils fünf Esel sind mit einem Seil aneinandergebunden und werden von einem Begleiter in einer Reihe geführt. Auf den Tragegestellen weiterer Esel sind Zelte, Feldbetten und Kisten mit Proviant befestigt.
Zunächst geht es an vereinzelten, schlichten Häusern und Hütten vorbei, die vermutlich noch zur Stadt Kairo gehören, bis die Reisegruppe die Zivilisation gänzlich hinter sich gelassen hat. Der Weg führt zwischen Sanddünen hindurch; hier und da ragen schroffe Felsen in den hellblauen Himmel, der sich völlig wolkenlos zeigt und von dem unablässig die Sonne herabstrahlt. Die Temperaturen sind für die Jahreszeit recht akzeptabel, und so geht es Stunde um Stunde durch eine triste, monotone Landschaft aus feinkörnigem Sand.
Schließlich erreicht die Reisegesellschaft eine alte Hütte oder, besser gesagt, einen hölzernen Verschlag, der als Rastplatz dient. Einige der Begleiter machen sich unverzüglich daran, zwei zusätzliche Zelte aufzustellen, um den Reisenden während der Pause Schatten zu gewähren. Nach einer Stärkung mit Speisen und Getränken macht sich die Gesellschaft schon nach etwas mehr als zwei Stunden an die zweite Teilstrecke des Tages. Endlos zieht sich der trostlose Weg durch die Wüste, bis ihnen zur Abwechslung eine lange Karawane aus schwer beladenen Dromedaren entgegenkommt, die mit Seilen miteinander verbunden sind. Wie sich herausstellt, gehören sie einer Gruppe von Berbern, die als nomadische Händler im nordafrikanischen Raum unterwegs sind.
Gegen Abend erreicht die Gruppe, etwa zwanzig Meilen von Kairo entfernt, ein größeres, solide wirkendes Gebäude, an das sich ein Stall anschließt. Das Ensemble wirkt relativ neu und ist in einem guten Zustand; es gibt zwei öffentliche Räume, einen für die Damen und einen für die Herren, zwei private Räumlichkeiten und einen größeren Raum für Führer und Bedienstete, an den sich eine kleine Küche anschließt.
„Hier, meine Damen und Herren, werden wir nächtigen“, erklärt Robin Frost, nachdem sich die Reisenden in einem der öffentlichen Räume eingefunden haben, während die Begleiter die Tiere versorgen.
„Ich dachte schon, wir müssten unter freiem Himmel schlafen“, lässt sich Cliff Hawkings hören, „aber das hier erscheint mir durchaus passabel.“
„Dann machen Sie es sich gemütlich“, meint Robin Frost und ergänzt: „Waghorn & Co. arbeiten zusammen mit der Firma Messrs. Hill & Raven sowie dem Pascha daran, sieben Haltestellen in der Wüste einzurichten, um die anstrengende Wüstenroute für die Reisenden so erträglich wie möglich zu gestalten. Aber, wie gesagt, wir arbeiten noch daran.“
„Tja, Hauptsache, Sie werden auch fertig“, erwidert Hawkings abfällig. „Apropos wohlfühlen: Wann können wir unser Bad nehmen?“
Mary Garner zieht genervt die Augenbrauen in die Höhe und bemerkt schnippisch: „Mr. Hawkings, vor Suez wird das wohl nichts mit dem Bad. Aber darauf könnten Sie auch selber kommen, wenn Sie ihr Gehirn auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentrieren würden, anstatt immer nur Schändliches zu denken.“
Schlagartig dreht sich der schwergewichtige Engländer in Mary Garners Richtung und schaut in zwei zornige Augen. „Was fällt Ihnen ein, Miss Garner, jetzt wollen auch Sie sich noch mit mir anlegen? Ich versichere Ihnen, Sie ziehen den Kürzeren.“
„Nein, Mr. Hawkings, ich werde mich mit Ihnen nicht – wie sagten Sie doch gleich? – anlegen. Sie sind es gar nicht wert, dass ich mich mit Ihnen beschäftige!“
Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich auf der Stelle um und verlässt den Raum, während ihr Cliff Hawkings hinterherruft: „Sie werden noch sehen, was Sie davon haben!“
Die meisten anderen der Reisenden blicken entweder betreten zu Boden oder wenden sich hastig ab, um sich in den vorhandenen Räumlichkeiten so gut wie möglich einzurichten.

Am nächsten Morgen macht sich die Reisegesellschaft nach einem zeitigen Frühstück wieder auf den Weg durch die schier endlose Wüste. Bei jedem Schritt im feinen Wüstensand gibt der Boden unter den Stiefeln ein wenig nach, als würde man einsinken; dadurch gestaltet sich das Gehen viel kraftraubender als auf festem Boden. Als die Gesellschaft nach einem längeren beschwerlichen Anstieg auf einer riesigen Sanddüne steht, offenbart sich ihren Teilnehmern die unendliche Weite der Sahara. In der Ferne ist etwas in der Art einer Schlange zu erkennen – vermutlich eine weitere Karawane, die sich langsam in ihre Richtung bewegt.
Gegen Mittag kommt Wind auf, und was zunächst als schwaches, angenehmes Lüftchen beginnt, nimmt im Laufe des Nachmittags an Intensität und Lautstärke deutlich zu. Der Wind treibt den Wüstensand wie kleine Wellen vor sich her, ebenso wie ab und an trockene Bündel von Gestrüpp. Allmählich beginnt der Sand unangenehm in den Augen zu brennen; die Führer machen Halt und beginnen sich lautstark mit Robin Frost und Qasim zu besprechen.
„Was meinen Sie, was da vor sich geht?“ Florence Eltringham schaut verunsichert von ihrem Esel zu Simon hinauf, der geduldig im Sattel seines Dromedars wartet. Im nächsten Moment stoßen Major Eltringham und Raj zu ihnen.
„Wie schätzen Sie die Lage ein, Mr. Campbell?“, wendet sich der Major an Raj.
„Der Wind wird immer stärker“, meint der Offizier. „Wir müssen uns wahrscheinlich auf einen Sturm vorbereiten.“
Simon sieht sich aufmerksam um. „Einen Sturm in der Wüste kann ich überhaupt nicht einschätzen. Auf dem Meer wüsste ich, was zu tun ist.“
Major Eltringham nickt mit bedenklicher Miene. „Mal sehen, was Frost und Qasim uns zu sagen haben, aber ich denke, wir sollten sehen, dass wir ein festes Dach über den Kopf bekommen.“
„Das wäre wünschenswert …“, murmelt Raj und wirkt dabei nicht ganz überzeugt.
Einige Minuten später setzt sich der Tross wieder in Bewegung. Während Lieutenant Frost an der Spitze bleibt, lässt sich Qasim auf seinem Dromedar zurückfallen und erklärt den Reisenden, dass mit einem Habub, einem Wüstensturm, zu rechnen sei und man daher versuchen würde, so schnell wie möglich die nächste Unterkunft zu erreichen. Alle Reisenden sollen Mund und Nase mit Tüchern abdecken, um sich vor dem Sand zu schützen. Mit zunehmender Windstärke liegt ein zarter Schleier von Wüstenstaub in der Luft, der die Konturen der Umgebung auf bizarre Weise verschwimmen lässt und die Sicht erschwert. Die Führer sind mittlerweile gezwungen, sich bei dem peitschenden Wind laut schreiend zu verständigen. Sie treiben die Tiere zu einem höheren Tempo an.
„Qasim, was haben die Männer von der Egyptian Transit Company gesagt?“, erkundigt sich Raj.
„Dass wir gut vorankommen und noch etwas über eine Stunde benötigen, bis wir in Sicherheit sind.“
Schritt um Schritt geht es voran und unvermittelt steht die Gruppe erneut oben auf einer Sanddüne, die einen Blick in die Umgebung ermöglicht.
„Mein Gott, dort ist eine Wand, eine Wand von aufgewirbeltem Sand! Sie kommt von der Seite auf uns zu“, stößt Major Eltringham erschrocken aus. Simon folgt seinem Blick und was er da sieht, bereitet auch ihm Unbehagen. Wie ein riesiger sandfarbener Wattebausch schiebt sich eine undurchsichtige Wand unablässig in ihre Richtung. Sie reicht vom Wüstenboden hinauf bis zu den tief hängenden, bedrohlich wirkenden Wolken darüber.
Simon sieht zu Qasim, der wieder neben Robin Frost an der Spitze des Zuges reitet und sich über den Wind hinweg schreiend mit ihm bespricht. Erneut lässt er sich zurückfallen und scheint nun jeden der Reisenden einzeln anzusprechen. Als er sich neben Simon und Raj befindet, erklärt er ihnen: „Achtet auf die anderen. Wir müssen jetzt eng zusammenbleiben und immer Anschluss halten. Nicht, dass jemand verloren geht; das könnte sehr gefährlich werden. Wenn der Habub uns voll erwischt, werden wir absteigen und die Tiere führen müssen, da wir dann kaum noch Sicht haben und unsere Tiere in Panik geraten könnten.“
Raj nickt ihm beruhigend zu. „In Ordnung, Simon und ich halten die Augen offen … so gut es eben geht.“
Unter enormen Anstrengungen kämpft sich die Reisegesellschaft durch den Sandsturm. Ohrenbetäubender Lärm unterbindet jedes Wort, und mittlerweile sieht Simon kaum noch die Hand vor seinen Augen, die er zwischenzeitlich immer wieder schließen muss, um sie vor den durch die Luft peitschenden Sandkörnern zu schützen. Der Sturm bläst den feinen Sand durch jede Öffnung und jede Ritze der Kleidung bis auf die bloße Haut. Endlich wird durch den nebelartigen, staubigen Sandsturm ein helles, massives Gebäude mit flachem Dach sichtbar. Alle Reisenden sind erleichtert, hier Zuflucht zu finden. Die Öffnungen des Baus sind mit robusten Holzklappen verschlossen, und auch die doppelflügelige Eingangstür ist verriegelt. Diese Unterkunft ist großzügiger als die vorherige, und als einer der Führer gegen die Tür hämmert und ihm geöffnet wird, wird deutlich, dass sie hier nicht alleine sind. Eine Gruppe arabischer Händler hat sich ebenfalls vor dem Sandsturm in Sicherheit gebracht, und so arrangieren sich alle mit dem knappen Platzangebot für Mensch und Tier. Der Sturm pfeift mit jaulenden Geräuschen um die Ecken des Gebäudes, die Dachbalken ächzen unter den enormen Kräften und das Rumpeln der Klappläden vervollständigt die bedrohlich wirkende Kulisse.
Simon hat einen Platz an der Wand in der Nähe von Raj gefunden. Erschöpft nach dem anstrengenden Kampf durch den Sturm, lehnt er sich zurück, als Helen Ward aus der Gruppe der Frauen in einer anderen Ecke des Raumes zu ihm hinüberkommt. Simon steht höflich auf und blickt in ihr verängstigtes Gesicht. Sie legt unwillkürlich eine Hand auf seinen Unterarm, und Simon bemerkt, dass sie zittert. „Verzeihen Sie, Mr. Brown, was halten Sie von der Lage? Sind Sie der Meinung, dass das Gebäude diesem Sturm standhält? Ruby und ich fürchten um unser Leben, aber Miss Garner sagte, wir sollten die Situation als gegeben hinnehmen und uns auf Ihre Meinung verlassen. Sie sind doch schon so weit gereist und haben viel gesehen.“ Helen Ward muss zitternd schlucken. „Es ist so schrecklich laut hier, es ist eng und stinkt fürchterlich.“
Simon legt seine freie Hand auf Helen Wards Handrücken, um sie etwas zu beruhigen. „Miss Ward, machen Sie sich nicht so große Sorgen. Das Gebäude scheint doch recht neu zu sein, und es macht auf mich einen stabilen Eindruck. Zudem wurde es von Menschen gebaut, die die Sahara kennen und um die Stürme wissen. Wir sollten Vertrauen haben. Versuchen Sie, sich auszuruhen; vielleicht finden Sie ja sogar etwas Schlaf. Sagen Sie das auch den anderen Damen. Morgen wird sicher wieder ein anstrengender Tag.“ Helen Ward nickt ihm zaghaft und mit einem kleinen Lächeln zu und begibt sich dann wieder hinüber zu den anderen Frauen.

Als Simon am nächsten Morgen aufwacht, fällt ihm als Erstes die überraschende Stille auf. Erstaunlich, dass er in der Nacht bei dem ohrenbetäubenden Spektakel überhaupt schlafen konnte. Jetzt ist der Sturm offenbar überstanden; von draußen ist nur ein sich beständig wiederholendes knirschendes Geräusch zu hören. Die Luft hier drinnen wirkt verbraucht und ist gefüllt mit den Ausdünstungen von Menschen und Tieren.
Simon steht auf, reckt seine verkrampften Glieder und macht sich auf den Weg zum Ausgang. Einer der Begleiter drückt ihm einen Becher Kaffee in die Hand. Draußen steht Qasim und beobachtet zwei Männer, die gerade damit beschäftigt sind, mit Schaufeln den großen, verwehten Sandhaufen vor dem Eingangsbereich der Unterkunft zu entfernen.
„Guten Morgen, Simon. Konntest du schlafen?“
„Erstaunlicherweise ja, aber ich war gestern Abend auch völlig erledigt.“
Qasim nickt verständnisvoll. „Der letzte Streckenabschnitt, den wir zu Fuß zurücklegen und dabei noch die Tiere hinter uns herziehen mussten, hat wirklich Kraft gekostet.“
„Ja, das war anstrengend.“ Simon nimmt einen vorsichtigen Schluck von seinem dampfenden Kaffee.
„Da haben wir mächtig Glück gehabt“, meint Qasim. „Mit so einem Habub ist nicht zu spaßen.“
„Das hätte tatsächlich gefährlich werden können, vermute ich.“
„Nun, wir haben es überstanden und es ist unwahrscheinlich, dass in den nächsten Tagen ein weiterer Sturm aufzieht.“ Er lacht. „Du wirst sehen: Der restliche Weg bis nach Suez wird quasi ein Spaziergang werden.“
Nach dem Frühstück wird das Gepäck verstaut und die Gruppe setzt ihre Reise auf dem Karawanenweg bei merklich besserer Stimmung fort. Stundenlang führt der Weg zwischen kleineren und großen, sich sanft erhebenden Sandhügeln hindurch, bis sie am frühen Nachmittag eine breite Schlucht zwischen steil emporsteigenden Felswänden durchqueren. Je tiefer sie in die Schlucht vordringen, desto schmaler wird der Weg und desto näher kommen ihnen die schroffen Felswände auf beiden Seiten. Hinter einer lang gezogenen Biegung kommt ihnen plötzlich eine Gruppe von etwa zwanzig Reitern auf temperamentvollen Araberpferden entgegen. Simon wundert sich: Welche Aufgabe könnte so eine große Gruppe von Reitern an dieser Stelle im Nirgendwo haben? Doch da fangen die an der Spitze reitenden Führer und Begleiter der Egyptian Transit Company an zu schreien, und unvermittelt fallen Schüsse. Einer der beiden Führer neben Lieutenant Frost kippt vom Pferd und bleibt regungslos am Boden liegen. Simon dreht sich im Sattel seines Dromedars um und sieht weitere Angreifer von hinten auf die Reisegruppe zureiten, ihre Waffen im Anschlag.
„Eine Falle, wir sitzen in der Falle!“, schießt es ihm durch den Kopf. Ohne groß nachzudenken, lässt er sich von seinem Dromedar in den Wüstensand fallen. Aus dem Augenwinkel sieht er Raj herbeispringen, während Qasim schreit: „Hinterhalt! Wir werden überfallen!“
Simon erkennt in seiner Nähe Mary Garner und Florence Eltringham auf ihren beiden Eseln. Er eilt zu ihnen und bedeutet ihnen, schnell abzusteigen und sich flach auf den Boden zu werfen. Schreie der Angst, Panik und Schmerzen hallen durch die Schlucht und konkurrieren mit dem Echo des Kugelhagels, das von den Felswänden zurückgeworfen wirft. Der ohrenbetäubende Lärm von Angreifern und Verteidigern, von Tieren und Material lässt Simon das Blut in den Adern gefrieren. Das Wort „Krieg“ kommt ihm in den Sinn, dann schleicht sich der Gedanke an Marala in sein Bewusstsein. Wird er sie jemals wiedersehen? Das hier darf es noch nicht gewesen sein …
Im nächsten Augenblick sieht Simon, dass Ruby Patel noch auf ihrem Esel sitzt, der wie vom Blitz getroffen stehen geblieben ist und panisch schreit. Simon greift ins Zaumzeug, damit das Tier nicht einfach davonrennen kann, und reicht Ruby eine Hand, um ihr beim Absteigen zu helfen, doch zu spät: Die junge Frau wird an der Stirn von einer Kugel getroffen, beginnt sofort zu bluten und sackt auf dem Esel zusammen. Simon zieht sie rasch auf den Boden und betrachtet kurz die Schusswunde. Ruby Patel ist tot. Neben sich hört Simon Helen Ward in Panik schreien. Er holt auch sie vom Esel herunter und macht ihr Handzeichen, dass sie zu Florence Eltringham und Mary Garner kriechen soll, aber Helen Wards Finger krallen sich in Simons Hemdärmel fest. So schleppt er sich mit der geschockten Frau zu Mary Garner, die ihm hilft, Helens Griff zu lösen.
„Simon, wo ist mein Mann?“, flüstert Florence Eltringham angsterfüllt.
„Ich weiß es nicht“, erwidert Simon bedauernd. „Bitte bleiben Sie flach auf dem Boden liegen.“
Geduckt schleicht er sich an einem regungslos auf dem Boden liegenden Dromedar vorbei. Dahinter liegt Guy Paine auf dem Rücken, ein Dolch steckt bis zum Knauf in seiner Brust. Paine ist offensichtlich tot. Ein Wimmern veranlasst Simon, sich auf die andere Seite des Dromedars zu bewegen, wo er auf den wehklagenden Cliff Hawkings trifft. Er hält sich mit blutverschmierten Fingern den rechten Oberarm.
„Brown, helfen Sie mir! Ich sterbe!“
„Zeigen Sie mal her!“ Simon schiebt Hawkings‘ Hand beiseite und vergrößert das Loch in dessen Hemd, um einen besseren Blick auf die Wunde zu bekommen. Dann reißt er den Ärmel von Hawkings‘ Hemd ganz ab, faltet ihn, legt ihn stramm über die Stichwunde und verknotet die Enden fest, um die Blutung zu stillen.
„So, das sollte halten. Bleiben Sie hier sitzen, Hawkings.“
Noch bevor Simon aufstehen und sich umdrehen kann, bekommt er einen kräftigen Schlag auf den Kopf. Ihm wird schwarz vor Augen und dann … nichts mehr.

Simon hört Stimmen wie durch Watte … Stimmen, die ihm irgendwie vertraut vorkommen … Unbewusst weiß er, dass etwas Grausames geschehen sein muss, aber er ist nicht in der Lage, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Simon zwingt sich, die Augen geschlossen zu halten, ruhig zu atmen und still liegen zu bleiben. Das Erste, was er eindeutig wahrnimmt, ist der Schmerz in seinem Kopf und seinen Gliedern. Eine unbestimmte Zeit geht dahin, bis er sich sammeln kann und seine Erinnerungen an den brutalen Angriff zurückkehren. Ein dumpfer Schlag auf den Kopf ist das Letzte, an das er sich erinnert. Langsam öffnet Simon seine Augen und blickt in ein hohes Zeltdach hinauf. Seine Hände spüren einen Teppich unter sich. Als er vorsichtig seinen schmerzenden Hinterkopf betastet, beugen sich Raj und Qasim über ihn. „Simon, du kommst zu dir“, spricht Qasim ihn an, „Alhamdullah!“
„Wo bin ich … Wo sind wir?“, murmelt Simon immer noch etwas verwirrt.
„Wir wissen es nicht so genau. Vermutlich sind wir entführt worden“, erklärt ihm Raj. Dann dreht er sich um und gibt jemandem ein Zeichen. „Das ist jedenfalls die Meinung von Lieutenant Frost.“
Robin Frost tritt zu ihnen und wirft Simon einen besorgten Blick zu. „Wie geht es Ihnen, Brown?“
„Ich habe Kopfschmerzen … und Durst.“
Nachdem Raj Simon beim Aufrichten geholfen hat, reicht Qasim ihm eine mit Stroh ummantelte Flasche, die er sich an den Mund hält, um hastig zu trinken. Dabei verschluckt er sich und muss husten.
„Nicht so gierig“, ermahnt ihn Robin Frost. „Wir müssen mit dem auskommen, was wir haben. Zwischen Kairo und Suez gibt es kein Wasser.“
„Ich pass auf ihn auf“, meint Qasim beruhigend. „Nur noch einen kleinen Schluck – schließlich hat er mehr als einen Tag nichts getrunken.“
„War ich so lange nicht bei Bewusstsein?“, will Simon erstaunt wissen.
„Sieht wohl so aus“, brummt Qasim.
„Wie geht es den anderen und was ist mit Ihnen, Lieutenant Frost?“
„Ein Streifschuss, deshalb der Verband. Es ist nichts Ernstes; mir geht es gut“, erklärt Robin Frost entschieden.
„Nachdem man uns überwältigt hatte, wurden wir hierher verschleppt“, fügt Raj hinzu. „Der Lieutenant ist der Meinung, dass die Männer, die uns überfallen haben, versuchen werden, Lösegeld für uns zu erpressen. Aber noch wissen wir nichts Genaues. Mary Garner und Helen Ward sind bei uns im Zelt und wohlauf.“ Raj macht eine entsprechende Kopfbewegung in die Richtung, in der sich die Damen vermutlich aufhalten. „Neben uns sind hier noch einige Männer der Egyptian Transit Company untergebracht. Es gibt ein weiteres Zelt hinter unserem; dort sollen sich Hawkings, das Ehepaar Hodgson, Major Eltringham und seine Gattin sowie weitere Führer und Begleiter aufhalten.“
„Miss Patel und Mr. Paine haben den Angriff nicht überlebt“, erklärt Qasim mit belegter Stimme, „aber die größten Verluste haben wir bei den Männern der Egyptian Transit Company.“
„Das ist auch nicht verwunderlich“, merkt Lieutenant Frost an. „Die waren schließlich bewaffnet und hatten die Aufgabe, uns zu verteidigen.“
Simon reibt sich vorsichtig seinen brummenden Schädel. Es ist nicht leicht, all die Informationen so schnell zu verarbeiten. „Was wird Ihrer Meinung nach jetzt geschehen, Lieutenant?“
Frost zuckt leicht die Schultern. „Da wir noch leben, ging es wohl nicht eigentlich darum, uns umzubringen und auszurauben. Ich nehme an, dass bereits eine Gruppe der Erpresser auf dem Weg zum Pascha ist, um mit ihm über ein Lösegeld zu verhandeln.“
„Haben Sie so eine Entführung schon mal erlebt?“, will Simon wissen.
„Nein, ich selbst nicht. Lieutenant Waghorn hat mir berichtet, dass so etwas immer mal geschieht. Aber soweit ich mich erinnern kann, hatten wir das bei Waghorn & Co. noch nicht. Jetzt heißt es abwarten und auf das Beste hoffen … Hauptsache, wir kommen hier unbeschadet raus.“
Mittlerweile haben sich auch Mary Garner und Helen Ward zu der kleinen Gruppe um Simon hinzugesellt. Die dunklen Ränder unter ihren rot geschwollenen Augen lassen ihre tiefe Trauer um Ruby Patel erahnen.
„Es tut mir leid, dass Sie Ruby verloren haben“, wendet sich Simon mit einem Kloß im Hals an die beiden Damen.
„Sie war viel zu jung, um schon von uns zu gehen“, schluchzt Helen Ward. „Sie hatte das ganze Leben noch vor sich und freute sich so sehr auf die Zeit in Bombay … Es ist so furchtbar ungerecht.“
„Ja, das ist es“, bestätigt Mary Garner traurig.

Nach einer unruhigen Nacht fühlt sich Simon am nächsten Morgen schon etwas besser; seine Gliederschmerzen haben nachgelassen und sein Kreislauf hat sich weiter stabilisiert, sodass er aufstehen und ein wenig umhergehen kann. Niemand darf das Zelt verlassen, das durchgehend von zwei bewaffneten Beduinen bewacht wird. Simon setzt sich innen direkt neben den Zelteingang, um zumindest ein wenig frische Morgenluft zu genießen und sich einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen – soweit das durch den eingeschränkten Blick aus dem Zelt heraus möglich ist.
Das Lager wird in Simons Blickfeld durch hohe Sanddünen begrenzt. Er sieht mehrere andere Zelte, aber vermutlich nicht das Zelt, in dem die anderen Personen der Reisegesellschaft untergebracht sind. Dieses vermutet er nach den Aussagen von Raj in seinem Rücken. Die Szenerie draußen wirkt öde, aber friedlich – nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass hier Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden. Äußerst selten ist einer der Beduinen zu sehen: Entweder wechseln sie von einem ins andere Zelt oder sie begeben sich zu den Tieren. Eine ganze Weile sitzt Simon still neben dem Zelteingang und beobachtet, was im Lager vor sich geht – oder eben auch nicht. Rein zufällig wird er auf einen blauen Punkt aufmerksam, der sich scheinbar reglos dicht über dem ihm gegenüberliegenden Dünenkamm befindet. Dieser Punkt kommt Simon merkwürdig und ungewöhnlich vor. Er konzentriert sich längere Zeit darauf und kommt schließlich zu dem Schluss, dass es sich um eine Person handeln muss, die ihrerseits das Lager beobachtet. Zwischendurch zieht Simon sich ins Zelt zurück, um Brot und Wasser zu sich zu nehmen, aber als er wieder seinen Platz im Eingangsbereich des Zeltes einnimmt, ist der blaue Punkt auf dem Dünenkamm weiterhin zu erkennen.
„Simon, ist alles in Ordnung?“ Robin Frost ist herangetreten und hockt sich neben ihn. „Stundenlang sitzen Sie hier und starren vor sich hin.“
„Ah, Lieutenant“, bemerkt Simon mit einem Lächeln, „machen Sie sich keine Sorgen um mich; ich beobachte und denke nach. Übrigens: Ich habe den Eindruck, dass wir beobachtet werden.“
„Von wem?“, flüstert Frost ziemlich überrascht.
Simon erhebt sich und tritt etwas zurück. „Hocken Sie sich bitte einmal auf meinen Sitzplatz und schauen Sie auf den gegenüberliegenden Dünenkamm.“
Frost leistet dem Vorschlag Folge und schaut konzentriert in die angegebene Richtung.
„Sehen Sie den blauen Punkt?“, fragt Simon leise. „Ich denke, da ist jemand, der uns beobachtet und zwar schon eine sehr lange Zeit.“
Lieutenant Frost starrt eine Weile konzentriert in die Richtung der Düne, dann erhebt er sich und zieht Simon am Hemdsärmel hinter sich her ins Zelt. „Wir müssen reden.“
Einen Moment später stehen sie neben Raj und Qasim, und Robin Frost erklärt mit gesenkter Stimme: „Brown hat auf dem gegenüberliegenden Dünenkamm eine mit einem blauen Turban bekleidete Person entdeckt, die das Lager beobachtet. Er meint, dass diese Person schon seit Stunden dort wartet.“
„Könnte es eine Wache sein?“, überlegt Qasim.
Simon schüttelt den Kopf. „Eine Wache würde doch aus dem Lager hinaus- und nicht hineinschauen.“
„Blauer Turban …“, sinniert Robin Frost. „Vielleicht auch noch ein blaues Gewand?“
„Hm, mir ist niemand in Blau hier im Lager aufgefallen“, meint Raj nachdenklich.
Qasim aber wirkt jetzt ganz aufgeregt. „Tuareg!“, stößt er aus und verschluckt den größten Teil des Wortes, um es gleich noch einmal zu flüstern.
Simon versteht nicht ganz, aber Robin Frost nickt bedächtig. „Ja, es könnte ein Tuareg sein, und wo wir einen haben, gibt es vermutlich noch mehr.“
„Was bedeutet das, Lieutenant?“, fragt Simon.
„Die Tuareg sind ein ausgesprochen stolzes Volk und gute Krieger. Die meisten von ihnen leben als Nomaden in der Sahara und im Sahel – sie sind Meister des Transsaharahandels. Vielleicht ist eine Karawane auf dem Weg nach Suez? Thomas Waghorn hat mir von Begegnungen mit den Tuareg berichtet. Er spricht sehr respektvoll von ihnen; viele von ihnen beherrschen mehrere Sprachen.“
Raj, für den diese Informationen anscheinend auch neu sind, hat aufmerksam zugehört. „Und was hat es mit dem blauen Turban auf sich, Sir?“
„Der ist ihr typisches Zeichen, ein Gesichtsschleier, den die Männer der Tuareg tragen und der ihnen Schutz vor Sonne, Wind und Sand bietet. Er nennt sich Tagelmust und wird traditionell mit Indigo blau gefärbt. Was das jetzt allerdings für uns bedeuten könnte, das weiß ich leider auch nicht …“
„Aus Langeweile wartet der aber nicht dort“, stellt Qasim trocken fest.
„Nein, das wohl eher nicht“, stimmt Simon ihm zu. „Aber fragen können wir ihn auch nicht, da wir festsitzen. Er müsste schon zu uns kommen …“

Es muss mitten in der Nacht sein, als Simon von einem trockenen Knacken geweckt wird, wie von einem Holzstück, das zerbricht. Durch den offenen Zelteingang erkennt er nur stockdunkle Nacht. Eine kleine Öllampe wirft gerade einmal so viel Licht, das sich die im Innern des Zeltes befindlichen Personen zurechtfinden können. Simon hält die Luft an und wartet auf weitere Geräusche, kann aber außer dem einen oder anderen Schnarcher und einem leisen Räuspern eines der Wachmänner nichts hören. Als ihn seine Müdigkeit gerade wieder in den Schlaf tragen will, vernimmt er ein Rascheln und nach einer kurzen Pause ein langes, dumpfes Stöhnen, als würde jemand schreien, dem der Mund zugehalten wird. Im nächsten Augenblick werden die beiden Wachen von zwei in Gewänder gehüllten Männern ins Zelt geschleift und regungslos auf dem Bauch liegen gelassen. Aufgrund der Art, wie sie sich bewegen, vermutet Simon, dass es sich um Männer handelt, die genau wissen, was sie tun.
Alle im Zelt sind sofort hellwach und ein Raunen geht unter den Gefangenen um. Lieutenant Frost und einer der Führer der Egyptian Transit Company sind aufgesprungen und unterhalten sich gedämpft mit den eingedrungenen Männern.
„Siehst du die blauen Turbane, Simon?“, flüstert Qasim dicht an Simons Ohr.
„Du hast scheinbar bessere Augen als ich. Bei der Beleuchtung bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich blau sind …“
Qasim unterdrückt ein Kichern. „Du hast recht behalten, als du sagtest, der Beobachter müsste schon zu uns kommen. Da sind sie, die Tuareg.“
„Shhh …“, unterbricht Simon den anderen mit erhobener Hand, „ich kann sie nicht verstehen, wenn du sprichst.“
„Du kannst Französisch?“
Simon nickt nur und legt einen Zeigefinger auf seine Lippen.
„Was sagen sie?“, fragt Qasim, nachdem er eine Weile abgewartet hat.
„Die Beduinen hätten vor zehn Tagen bereits die fünfte Karawane überfallen. Sie seien durch und durch Banditen und hätten kein Erbarmen verdient. Ich vermute, unsere beiden Wächter sind tot.“
Qasim reißt erschrocken die Augen auf.
„Die Tuareg sagen, ihre Leute seien bei den Überfällen auch nicht geschont worden. Ich denke, hier herrscht das Gesetz der Rache.“

Nach einem kurzen Austausch verlassen die beiden Tuareg das Zelt, gefolgt von mehreren Männern der Egyptian Transit Company. Lieutenant Frost teilt den Reisenden mit, dass die Tuareg gekommen wären, um sie zu befreien und in Sicherheit zu bringen. Eine größere Gruppe der Geiselnehmer wäre vorgestern Abend in Richtung Westen davongeritten, und man wolle das Lager möglichst schnell wieder verlassen, um einen großen Abstand zwischen sich und die Entführer zu bringen. Deshalb solle jeder seine Habseligkeiten zusammenpacken und sich unverzüglich nach draußen zu seinem Reittier bewegen.
Bevor Simon das Zelt verlässt, kniet er sich neben einen der am Boden liegenden Geiselnehmer und dreht den leblosen Körper auf den Rücken. Dem Mann wurde mit einem gezielt gesetzten Schnitt eine Halsschlagader durchtrennt. Simon schluckt kurz, macht sich dann aber schnell daran, die anderen einzuholen. Kurze Zeit später sitzt er schon im Sattel seines Dromedars und reitet zusammen mit den anderen durch die Nacht. Der wolkenlose Himmel ist mit einer schier unglaublichen Zahl von Sternen übersät, wie es Simon nicht einmal auf See gesehen hat. Dazu kommt ein fast voller Mond, sodass es leicht ist, sich in der Nacht zurechtzufinden. Erst in den frühen Morgenstunden lassen die Tuareg eine kurze Versorgungspause für die Tiere zu, um anschließend die Flucht unverzüglich fortzusetzen.
Weitere Stunden vergehen und die Sonne steht mittlerweile schon relativ hoch am Himmel, als sie wieder einmal durch eine schmale Felsschlucht reiten, an deren Ende sich eine große Höhle aus schroffem Fels öffnet. Neben dem Höhleneingang befinden sich mehrere mit Leder bespannte Zelte, einige davon richtiggehend groß. Gegenüber steht eine beachtliche Anzahl festgebundener Kamele neben einem Stapel von Kisten. Zwei Männer der Tuareg weisen den Führern der Egyptian Transit Company einen freien Platz zu, an dem diese mit dem Aufbau der eigenen Zelte beginnen.
Simon steigt von seinem Dromedar ab und schaut sich um, an welcher Stelle er das Tier am besten lassen soll. „Mr. Brown, geht es Ihnen gut?“ Major Eltringham und seine Frau sind zu ihm getreten.
Simon freut sich, die beiden zu sehen. „Ja, Mrs. Eltringham, es geht mir wieder gut. Irgendetwas hatte mich am Kopf getroffen.“
„Der Gewehrkolben eines der Entführer“, erklärt der Major. „Ich habe es gesehen, war aber zu weit entfernt, um Ihnen helfen zu können.“
„Seltsam, was jetzt gerade hier abläuft“, murmelt Simon leise. „Wie wurden die Tuareg auf uns aufmerksam? Hat der Pascha sie geschickt oder wurden wir jetzt einfach unter verschiedenen Entführern getauscht?“
„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand!“, entfährt es Mrs. Eltringham erschrocken.
„Nein, Liebste, das ist bestimmt nicht Mr. Browns Absicht. Aber ich teile seinen Gedanken, dass wir uns in einer unklaren Position befinden. Vielleicht sind wir in Sicherheit, vielleicht aber auch nicht …“

Am Abend wird die Gruppe der Geiseln wieder aufgeteilt. Lieutenant Frost, Qasim, Major Eltringham, Raj und zwei Führer der Egyptian Transit Company werden von den Tuareg eingeladen, im größten Zelt mit ihnen zu speisen. Simon, Florence Eltringham, das Ehepaar Hodgson, Cliff Hawkings sowie die Damen Garner und Ward werden in einem der anderen Zelte bewirtet. Zunächst steht die Gruppe etwas unsicher am Eingang und wartet ab, was geschieht. Zwei Frauen – eine jüngere und eine etwas ältere – betreten mit einem Gruß in französischer Sprache und einer Verbeugung das Zelt. Sie tragen beide ein Kopftuch, bedecken aber ihr Gesicht im Gegensatz zu den Männern nicht. Nun lädt die ältere der beiden Frauen die Gäste ein, es sich im Kreis um eine große, auf dem Boden stehende Schüssel auf den ausliegenden Teppichen bequem zu machen. Der Blick der jungen Tuareg schweift annähernd neugierig über die Gesichter der Fremden. Simon hat den Eindruck, dass sie ihn eine Sekunde länger anblickt als die anderen, aber er kann den Blick der fremden jungen Frau nicht enträtseln.
„Merci beaucoup.“ Es ist Diana Hodgson, die das Wort ergreift und sich auf Französisch für die Einladung bedankt. Dann lässt sie sich auf einem der Teppiche nieder und macht Simon ein Zeichen, sich neben sie zu setzen.
„Sie sprechen Französisch, Mrs. Hodgson?“
„Ja, meine Mutter legte großen Wert darauf, dass wir Kinder die französische Sprache erlernen – genau wie bei Ihnen, nehme ich an?“
„Ja, wir hatten einen belgischen Lehrer; sein Name war Rudolf Vonecken.“
In diesem Moment betritt die jüngere der beiden Frauen das Zelt mit einem Tablett voller Gläser, deren Inhalt dampft und zart grünlich schimmert. Sie erklärt, dass es sich um Grünen Tee handeln würde und die Gäste gerne so viel trinken könnten, wie sie wünschten. Als sie Simon das Glas reicht, zeichnet sich ein schüchternes Lächeln auf ihrem Gesicht ab, das er gerne erwidert.
Die ältere Frau reicht jedem Gast eine kleine Schüssel mit etwas, das sie Almfuf nennt, und erklärt, dass es sich um eine Vorspeise handle. Simon nippt neugierig zweimal an dem Teeglas und kostet anschließend vom Almfuf. Florence Eltringham hat ihn interessiert dabei beobachtet. „Schmeckt es, Mr. Brown?“
„Ausgezeichnet“, bestätigt Simon. „Der Tee ist äußerst stark und sehr süß – ungewöhnlich, aber köstlich. Und dieses Almfuf – ich weiß nicht, was es ist, aber es schmeckt hervorragend.“ Simon schiebt sich drei weitere Stücke der Vorspeise in den Mund.
Als die jüngere Tuareg in Stücke gerissenes Fladenbrot, das sie Tagella nennt, in die große Schüssel in der Mitte des Kreises legt, fragt Diana Hodgson sie, wie Almfuf hergestellt wird. Daraufhin lächelt die junge Frau und erklärt, dass Ziegenleber und -herz zunächst über offenem Feuer gegrillt und danach in Würfel geschnitten, mit netzartigem Bauchfellspeck umwickelt und auf einem Spieß nochmals kurz angegrillt würden. Helen Ward verzieht nach dieser Beschreibung das Gesicht und verzichtet auf diesen Teil der Speise, sodass Simon sich ihren Almfuf auch noch schmecken lässt. In der Zwischenzeit wurde die Tagella mit reichlich flüssiger Ziegenbutter beträufelt und eine dickflüssige Tomatensoße neben dem Brot in die große Schüssel gegeben. Nun setzt sich die ältere Tuareg mit einer Schale von gekochtem Ziegenfleisch neben die Gäste, zerteilt das Fleisch und wirft es portioniert und gekonnt vor jedem Gast in die Schüssel. Im Anschluss daran verneigen sich die Frauen vor den Gästen und verlassen ohne ein weiteres Wort das Zelt.
Thomas Hodgson schiebt sich Brot und einen Brocken Fleisch mit Tomatensoße in den Mund und bemerkt: „Das sieht mir hier eher nach einem Gastmahl aus als nach einer Mahlzeit für Geiseln. Der Unterschied zu dem, was wir die letzten Tage bekommen haben, könnte kaum größer sein.“
„Gastmahl oder Henkersmahlzeit?“, stößt Cliff Hawkings unwirsch hervor. „Essen kann man es, aber ein Gastmahl? Darunter verstehe ich etwas anderes!“
„Mr. Hawkings!“ Mary Garner sieht ihn entrüstet an. „Sie sind doch nicht ganz bei sich. Die Tuareg leben in der Wüste und sie müssen mit dem auskommen, was sie hier finden, mit sich herumschleppen oder in einer Oase kaufen können. Ich fühle mich hier sehr freundlich aufgenommen und das Essen war den Umständen entsprechend sogar fabelhaft.“
„Ich möchte mich anschließen“, pflichtet Helen Ward ihr bei, „auch wenn ich den Almfuf nicht gegessen habe, weil ich keine Innereien essen mag.“
„Danke, Miss Ward“, wendet sich Simon ihr mit einem Grinsen zu. „Ihre Portion war auch sehr schmackhaft. Ich bin inzwischen ziemlich zuversichtlich, dass uns die Tuareg wirklich helfen wollen. Sie behandeln uns sehr höflich und gastfreundlich.“
Nach einiger Zeit kehren die beiden Tuareg-Frauen zurück und schenken vor dem Abräumen nochmals Tee nach. „Hat Ihnen das Essen geschmeckt?“, fragt die ältere der beiden, woraufhin Diana Hodgson begeistert antwortet: „Sehr gut, vielen Dank! Ein wirklich hervorragendes Mahl. Darf ich Sie etwas fragen?“
Die Tuareg neigt bejahend den Kopf.
„Ist es nicht sehr anstrengend, sein Leben lang durch die Wüste zu reisen?“
„Jeder ist für einen Teil seines Schicksals selbst verantwortlich, den anderen lenkt Allah. Mein Name ist Demu ult Agag. Ich bin eine Targia, eine stolze Imuhar. Es ist unser Schicksal, mit der Wüste zu leben.“
„Was bedeuten diese Namen?“, erkundigt sich Diana freundlich.
„Wir sind das Volk der Imuhar; das ist unser eigenes Wort für uns. Alle anderen nennen uns aber die Tuareg.“ Demu ult Agag lächelt und erklärt den Gästen weiter: „Ein männlicher Tuareg ist ein Targi und eine weibliche eine Targia.“
„Sie sagen das mit so viel Stolz“, stellt Diana Hodgson beeindruckt fest und fügt respektvoll hinzu: „Darf ich fragen, ob Sie einen Ehemann haben? Ich meine …“
„Sie möchten wissen, ob ich verheiratet wurde? Nein, ich habe mir meinen Ehemann gewählt und der Brautpreis wurde bezahlt. Das Zelt, in dem meine Familie wohnt, gehört mir und mein Wort zählt wie das meines Mannes, auch während einer Teezeremonie.“
Nun ist es an Diana Hodgson, sich kurz zu verneigen. Die Tuareg tut es ihr gleich und lächelt Diana an, die eine weitere Frage stellt: „Ist die junge Frau ihre Tochter?“
„Nein, meine jüngste Tochter ist im großen Zelt. Lalla ult Salah ist meine Nichte, die jüngste Tochter meiner jüngeren Schwester. Sie reist in unserer Karawane mit, um zu lernen, und ist mit meiner Tochter befreundet.“
„Hat sie schon jemanden im Auge, den sie heiraten möchte?“
„Lalla ist noch nicht verheiratet, hat aber schon einen Mann gewählt.“ Mit einem Lächeln schiebt die Tuareg hinterher: „Der Brautpreis ist sehr hoch, er wird noch sparen müssen.“
Bei diesen Worten senkt die junge Tuareg ihren Kopf, wobei sie ein stolzes Lächeln zu verbergen scheint.
„Darf ich einmal stören?“, unterbricht Lieutenant Frost die Unterhaltung.
Cliff Hawkings, der die bisherige Unterhaltung eher gelangweilt über sich hat ergehen lassen, hebt den Kopf. „Ah, Lieutenant, gibt es Neuigkeiten?“
„Ja, Mr. Hawkings, und zwar gute. Die Tuareg sind auf dem Weg nach Suez und werden uns begleiten. Der Karawanenweg, den sie nehmen, ist ein anderer als der, den wir von Waghorn & Co. normalerweise nutzen. Daher verlängert sich die Reisezeit um etwa einen Tag.“
Hawkings runzelt die Stirn. „Was geschieht, wenn uns der Dampfer in Suez vor der Nase wegfährt?“
„Wir haben für solche Fälle einen Puffer eingeplant. Es sollte noch passen, aber wenn alle Stricke reißen, werden wir auch dafür eine Lösung finden.“
„Lieutenant“, meldet sich Simon zu Wort, „warum haben die Tuareg uns gefunden, beobachtet und gerettet?“
Frost wirkt erleichtert, dass Simon das Gespräch von Hawkings ablenkt. „Gute Frage, Mr. Brown. Die Gruppe Beduinen, die uns überfallen hat, hat in den letzten Monaten bereits mehrere Karawanen der Tuareg ausgeraubt. Die Ware ist in solchen Fällen dann weg und wenn das öfters passiert, vertraut man den Tuareg keine kostbaren Güter mehr für den Transport an. Da das aber ihre Lebensgrundlage ist, schlagen sie erbarmungslos zurück. Ein Späher der Tuareg hat den Überfall auf uns beobachtet und ist uns zum Lager gefolgt. Dann hat er die anderen informiert, und gestern Abend haben sie zugeschlagen.“
„Wie viele Geiselnehmer haben denn überlebt?“
„Keiner. Der Anführer der Tuareg, Kenan ag Makhia, teilte mir mit, es sei unbedingt zu verhindern gewesen, dass die verbliebenen Entführer, die fortgeritten sind – wahrscheinlich um wegen Lösegeld zu verhandeln –, Informationen erhalten.“
Simon runzelt die Stirn. „Wie groß ist die Gefahr, dass sie uns nach ihrer Rückkehr einholen?“
„Kenan ag Makhia meint, die Wahrscheinlichkeit sei sehr gering, da diese Gruppe nicht weiß, was genau vorgefallen ist, und die Sahara sei groß. Außerdem würden die Tuareg einen gewissen Ruf genießen und wären bis an die Zähne bewaffnet. Niemand wagt es, sich mit ihnen anzulegen.“
„Die verstehen ihr Handwerk“, bemerkt Simon, der die beiden präzise getöteten Wachmänner noch vor Augen hat.

In Kairo hatten wir oberhalb der „Stadt der Toten“ gestanden und unser Blick war über Tausende von Gräbern gefallen, zwischen denen unzählige Menschen lebten. Leben und Tod – so nah beieinander. Wir machten uns auf den Weg nach Suez: eine abenteuerliche Durchquerung der Wüste, von der wir alle annahmen, dass sie kein Spaziergang werden würde, aber was dann kam, übertraf unsere kühnste Vorstellungskraft. Leben und Tod – so nah beieinander! Der eine oder andere von uns sah in seinen Träumen wohl gleich mehrmals sein eigenes Grab vor sich. Und bei Einigen blieb es leider nicht bei den Träumen … Diese Schrecken haben auch mich nicht so leicht losgelassen.