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5.17 Unerwartete Wendungen und ein Funken Hoffnung

Die Sonne hat den Zenit bereits überschritten, als die Oldenburger Landdragoner an diesem frostigen Mittwoch den Fuß...

Die Sonne hat den Zenit bereits überschritten, als die Oldenburger Landdragoner an diesem frostigen Mittwoch den Fuß des Schlosshügels in Birkenfeld erreichen. Schon nicht mehr ganz frisch, trotten die Pferde die Schlossallee bis zum neuen Birkenfelder Schloss hinauf. Je näher der Trupp seinem Ziel kommt, desto mächtiger wirkt das mehrstöckige Schlossgebäude in modernem klassizistischem Stil. Links und rechts wird es von zwei kleineren Gebäuden eingerahmt und in der Mitte dominiert eine repräsentative Eingangstür mit breiter Treppe das Erscheinungsbild. Auf einer kreisrunden Grünfläche vor dem Hauptgebäude prangt ein Springbrunnen, was dem ganzen Ensemble einen höfischen Charakter vermittelt. Der Tross umrundet den Brunnen und hält so punktgenau vor dem neuen Schloss, dass sich die Kutsche direkt vor der Eingangstür befindet.
Schon öffnet sich die Eingangstür des Schlosses und zwei Bedienstete eilen die Stufen hinab, nehmen neben der Kutsche Aufstellung und öffnen deren Tür.
„Guten Tag, Herr Regierungsdirektor“, grüßt einer der Diener.
„Guten Tag“, dröhnt es aus der Kutsche, die leicht schwankt, bevor Staatssekretär Fosch in der Tür erscheint. Nachdem auch der Regierungsdirektor das Gefährt verlassen hat, streckt er seinen Rücken und stellt fest: „Mit zunehmendem Alter werden diese Fahrten immer beschwerlicher.“
Die beiden Herren verschwinden zügig durch die Eingangstür des neuen Schlosses, während weitere Bedienstete erscheinen und sich um das Entladen des Reisegepäcks kümmern. Einige von ihnen machen einen recht unglücklichen Eindruck. Simon vermutet, dass sie es als Regierungsangestellte nicht gewohnt sind, draußen zu arbeiten und die empfindliche Kälte ihr Eigenes tut.
„Dragoner, absitzen!“, befiehlt nun Korporal Bakenhus. Er drückt Tilemann seine Zügel in die Hand und wendet sich an Simon: „Sie folgen mir zum Meldeamt. Wir werden einem der Beamten Ihren Reisepass aushändigen und sobald Ihre Eltern Ihre Identität bezeugt haben, können Sie nach Hause fahren.“
„Korporal, kann ich mich von den Männern verabschieden?“
Bakenhus wirft einen kurzen Blick auf seinen Tross. „Das können Sie später erledigen. Wir werden noch einige Zeit hier sein, denn die Kutsche muss zunächst vollständig entladen und alle Formalitäten müssen erledigt werden.“
Weil Otto Högel auf dem Kutschendach steht und dabei hilft, das Gepäck abzuladen, übergibt Simon Carl die Zügel seines Pferdes und folgt dem Korporal die Treppe hinauf ins Schloss. Ein weißes Schild mit der schwarzen Aufschrift „Meldeamt“ weist ihnen den Weg zu einem geräumigen Amtszimmer mit hohen weißen Decken. Hinter einem massiven Tresen stehen zwei Schreibtische und mehrere Büroschränke, teils mit vielen kleinen Fächern versehen, teils mit Türen bestückt. Alle Möbel sind in einem sehr dunklen, warmen Holzton gehalten.
„Moin“, begrüßt Erwin Bakenhus einen älteren Herrn mit weißem Hemd, Querbinder und Ärmelschützern, der am rechten der beiden Schreibtische sitzt. Er hat sein weniges verbliebenes Haar quer über den Kopf auf die andere Seite gekämmt und verbirgt so die angehende Glatze.
„Guten Tag.“ Der Beamte tritt zu ihnen an den Tresen, setzt eine Brille mit kreisrunden Gläsern auf die Nase und fragt die Ankömmlinge: „Sie wünschen?“
„Ich bin Korporal Bakenhus, der Brigadeführer der Landdragoner, die sich vor dem Schloss aufhalten, und habe den neuen Reisepass für diesen jungen Mann hier, sein Name ist Simon Brown. Der Pass darf ihm allerdings erst ausgehändigt werden, wenn jemand, der sich ausweisen kann, bezeugt, dass es sich in der Tat um Simon Brown handelt. Dafür sollen seine Eltern auf dem Weg von Mainz nach Birkenfeld sein. Würden Sie diese Übergabe für mich in die Hand nehmen, Herr …?“ „Brettschneider, Alwin“, erwidert der Beamte, „landesherrlicher Diener. Ja, ich bin informiert; der Vater war bereits gestern hier bei uns auf dem Amt.“
„Gestern schon?“, platzt Simon aufgeregt heraus.
„Wir haben doch einen Tag verloren“, erklärt Bakenhus und fährt an Brettschneider gewandt fort: „Wir hatten eine kleine Verzögerung auf der Reise.“
„Das ist kein Problem. Herr Braun teilte mir mit, dass er gedenkt, heute Nachmittag wiederzukommen.“
„Sehen Sie, Brown, in ein paar Stunden sind Sie auf dem Weg nach Hause.“ Bakenhus knöpft seine Uniformjacke auf, holt eine kleine Ledertasche heraus und legt den Inhalt auf den Amtstresen. Geschickt zieht er aus mehreren Papieren Simons Reisepass heraus und übergibt ihn dem landesherrlichen Diener. Sorgsam betrachtet Brettschneider das Dokument, um dann festzustellen: „Datiert, gestempelt und unterschrieben von Brinkmann … In Ordnung.“
„Würden Sie mir bitte eine Bestätigung ausstellen, dass ich Ihnen den Reisepass ausgehändigt habe?“
„Jawohl.“ Brettschneider zieht aus dem Büroschrank mit den unzähligen Fächern ein Formular heraus, tunkt eine Schreibfeder in ein auf dem Tresen befindliches Tintenfass und füllt das Formular aus. Zum Schluss stempelt er es ab und unterschreibt es. „So, Korporal, das sollte genügen.“ Mit unverbindlichem Gesichtsausdruck wendet er sich Simon zu. „Herr Brown, Sie können draußen auf dem Flur warten.“
„Kann ich mich noch von den Landdragonern verabschieden?“
„Wie Sie meinen, Sie sollten allerdings vor Ort bleiben.“
„Danke, ich bin gleich zurück.“
Zusammen mit Bakenhus kehrt Simon zu den Dragonern vor dem Schloss zurück und verabschiedet sich von den Männern. Als er bei Carl angekommen ist, holt Simon drei Pulvertütchen mit den entsprechenden Kugeln aus seiner Jacke und drückt sie Carl in die Hand. „Mit bestem Dank zurück.“
„Drei und zwei macht fünf“, antwortet der Dragoner verschmitzt und lässt die Tütchen in seiner Jackentasche verschwinden.
„Ich hab’s gesehen“, grummelt die Stimme von Otto Högel hinter ihnen. Geistesgegenwärtig drückt Simon dem Kutscher fest die Hand und lässt sich laut und deutlich vernehmen: „Danke, Otto, dass ich deine Braune reiten durfte, wir haben uns gut verstanden.“ Und leise flüstert er hinterher: „Bitte, Otto, mach da keine große Sache draus. Das sollte unter uns bleiben.“
Mit gedämpfter Stimme fragt Högel neugierig: „Sag mal, wo hast du so schießen gelernt?“
„Auf meiner Reise durch Schottland bei dem Scharfschützen Cleit Martin, einem ehemaligen Rifleman.“
„Der hat ja ganze Arbeit geleistet!“
„Männer, hören Sie nicht zu?“, kommt es da ungeduldig von Korporal Bakenhus. „Brown, sehen Sie dort hinten.“ Er zeigt auf eine schwarze Kutsche, vor der zwei Rappen stehen. „Sie sollten die Leute, die hier ankommen, im Blick behalten, sonst verpassen Sie Ihre Eltern noch. Die Kutsche dort drüben ist vor ein paar Minuten eingetroffen.“
Simon hebt den Blick. Weder vom Kutscher noch von den Fahrgästen ist es etwas zu sehen. Entweder befinden sie sich hinter der Kutsche oder sind bereits ins Schloss gegangen.
„Carl, ich glaube, wir sollten uns verabschieden – und ich sollte achtsamer sein.“
„War eine interessante Reise mit dir, Simon“, meint Carl grinsend. „Ich wünsche dir Frohe Weihnachten, und lass es dir gut gehen.“
„Danke, Carl, auch für dich Frohe Weihnachten – und für dich, Otto.“
Nervös schaut Simon wieder zu der schwarzen Kutsche hinüber, wo der Kutscher sich jetzt um die Pferde kümmert. Er hat Simon den Rücken zugewendet, aber als der Mann den Kopf dreht, glaubt Simon, den Mann irgendwoher zu kennen. Als er genauer hinsieht, stellt er fest, dass der Kutscher Joseph, dem altgedienten Angestellten der Familie Braun, wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Aber der Mann hier ist viel jünger; Simon schätzt ihn auf Mitte dreißig. Da er nichts Besseres zu tun hat, entschließt er sich kurzerhand, auf den Kutscher zuzugehen und ihn anzusprechen.
„Entschuldigen Sie bitte, kann es sein, dass wir uns kennen? Ich habe das Gefühl, wir wären uns schon einmal begegnet.“
Der Kutscher lässt von den Pferden ab und wendet sich Simon zu. „Nicht das ich wüsste“, brummt er. „Ich bin mit meinem Herrn hier, um jemanden abzuholen. Joseph Ohschneider ist mein Name.“
„Joseph!“, ruft Simon erstaunt aus, und dann versteht er den Zusammenhang. „Na klar, Sie sind der zweite Sohn von unserem Kutscher Joseph, daher die Ähnlichkeit.“
„Dann sind Sie Simon?“, fragt der andere freundlich.
„Ja, der bin ich. Joseph, wie geht es Ihrem Vater?“
„Ganz gut für sein Alter. Allerdings ist er mittlerweile etwas wirr im Kopf … Er bekommt immer größere Lücken, wenn Sie wissen, was ich meine?“
„Ja, ich kann es mir vorstellen. So ein stattlicher Kerl war Ihr Vater. Schade, dass er so abbaut. Das ist bestimmt auf Dauer recht anstrengend. Schön, dass Sie jetzt für uns arbeiten … die zweite Generation Kutscher in der Familie. Sagen Sie, Joseph, wo ist mein Vater jetzt?“
„Er ist hineingegangen.“
„Dann will ich mal schnell hinterher, damit wir dieses Kapitel beenden können. Bin gleich zurück.“
Mit ein paar Sätzen springt Simon die Eingangstreppe hinauf und wiederholt den Weg zum Meldeamt. Vor dem Amtstresen erkennt er schon von Weitem seinen Vater in einem dicken dunkelbraunen Mantel, Hut und Gehstock. Simons Herz beginnt laut zu klopfen. Endlich ist es so weit: Er wird seinen Vater in die Arme schließen können – nach so vielen Jahren! Wie oft hat er darüber nachgedacht, wie es wohl sein würde, wieder nach Hause zu kommen. Mehrere Varianten hat er in der Vergangenheit im Kopf durchgespielt, aber eine, bei der er keinen Reisepass und kein Geld haben würde, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Gerade erklärt Brettschneider hinter dem Tresen mit seiner etwas trägen Stimme: „Ja, er ist eingetroffen. Er wollte sich von den Landdragonern verabschieden und sollte vor der Tür auf dem Flur warten.“
„Ich bin schon da, Vater.“
Balthasar dreht sich um und ein breites Lächeln erhellt sein Gesicht. Er ist grau geworden und an den Schläfen zeigen sich deutliche Geheimratsecken, die früher nicht zu sehen waren, genauso wie die tiefen Falten auf der Stirn und das Weiß des akkurat gehaltenen Vollbarts.
„Simon!“ Herzlich schließen sich Vater und Sohn in die Arme.
„Schön, dass es geklappt hat.“ Balthasar Braun klopft seinem Sohn fröhlich auf die Schulter. „Endlich bist du zu Hause. Wie geht es dir?“
„Gut, Vater“, antwortet Simon, dann wendet er sich dem landesherrlichen Diener zu. „Wir sollten Herrn Brettschneider nicht warten lassen.“
„Danke, werte Herren. Ich habe Ihren Reisepass und die Formalitäten bereits vorbereitet. Darf ich Sie bitten, mir Ihren Pass auszuhändigen, Herr Braun?“
„Ja“, antwortet Balthasar und zieht seinen Pass aus der Innentasche seines Mantels. Brettschneider prüft das Dokument, indem er es ins Licht hält und jedes Detail genauestens betrachtet. Dann räuspert er sich. „Herr Braun, Sie können also absolut und unmissverständlich bezeugen, dass es sich bei der hier anwesenden Person um Ihren Sohn Simon Balthasar Braun, auch genannt Simon Brown, handelt? Und Sie können mit einhundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass es sich um eine andere als die genannte Person handelt, die nur vorgibt, Simon Balthasar Braun, auch genannt Simon Brown, zu sein?“
„Entschuldigen Sie“, erklärt Balthasar leicht amüsiert, „diese Amtssprache ist reichlich kompliziert … Hier steht mein Sohn Simon und daran besteht kein Zweifel.“
Brettschneider lässt sowohl Balthasar als auch Simon das vorbereitete Formular unterschreiben und händigt Simon den langersehnten Reisepass aus.
„Herr Brettschneider, können Sie mir sagen, wo ich hier in Birkenfeld Bankgeschäfte erledigen kann?“
„Ja, unten im Ort finden Sie die Ersparungscasse zu Oldenburg. Dort wird man Ihnen weiterhelfen können.“

In der Ersparungscasse bekommt Simon gegen Vorlage eines Kreditbriefs der New England Bank of Boston Bargeld ausgehändigt ...