Die Morgensonne scheint Simon direkt ins Gesicht, als er die schmale Treppe hinaufsteigt und das Deck der Norfolk ...
„Guten Morgen, Mr. Brown“, ertönt die markige, dunkle Stimme des Kapitäns in Simons Rücken. Überrascht dreht sich der Angesprochene um.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken, Brown“, entschuldigt sich der Kapitän. „So früh schon auf den Beinen?“
„Guten Morgen, Mr. Mac Brodie“, antwortet Simon freundlich.
„Sir!“, kommt es kurz, aber bestimmt von dem mürrischen alten Seebären zurück.
„Sir?“
„Ja, Mr. Brown, es reicht, wenn Sie mich mit Sir ansprechen.“ Am Gesichtsausdruck des Kapitäns erkennt Simon unmissverständlich, dass dieser eine ernsthafte Unterredung mit ihm führen will. „Es ist gut, dass wir ein paar Minuten unter vier Augen haben, Mr. Brown. Wissen Sie – ich habe Sie mir als Feriengast an Bord nicht ausgesucht. Aber Sie sind nun mal hier … Sei’s drum. Sie begleiten uns im Auftrag von Ringfield & Lewis, also dienstlich. Und da Sie schon mal anwesend sind, können Sie sich auch nützlich machen – sonst kommen Sie noch auf den Gedanken, sich zu langweilen. Seien Sie sich sicher: Ich werde schon etwas Geeignetes für Sie finden. In der Rangordnung weise ich Ihnen den Platz zwischen den Offizieren und der Mannschaft zu.“
„Ja, Mr. … Sir“, antwortet Simon freundlich. Er ist tatsächlich froh über die Idee des Kapitäns, denn Faulenzen war noch nie etwas für ihn.
„Und Mr. Brown – freunden Sie sich nicht mit der Mannschaft an!“
„Entschuldigung?“ Nun schaut Simon doch etwas verdutzt.
„Mr. Brown, wir sind hier keine Reisegesellschaft. Wir leben über viele Monate auf engstem Raum zusammen, die Arbeit ist hart und die See oftmals unberechenbar und unversöhnlich. Dabei sind wir eine Zweckgemeinschaft, in der jeder für sich selbst kämpft und seinen eigenen Vorteil sieht. Dem Respekt, den Sie sich bei der Mannschaft verschaffen, kommt dabei eine enorme Bedeutung bei, denn er hilft, Ihr Leben zu schützen. Wenn es hart auf hart kommt, stehen ein paar Offiziere einer zahlenmäßig weit überlegenen Mannschaft gegenüber.“
„Ja, Sir!“
„Gut, wir haben uns verstanden. Ah, da ist Mr. Milton.“ Kapitän Mac Brodie hebt seinen rechten Arm, um auf sich aufmerksam zu machen, und Offizier Milton kommt zu ihnen herüber. „Guten Morgen, Sir“, grüßt er den Kapitän. „Scheint ein schöner Tag zu werden.“
„Mr. Milton, nehmen Sie Mr. Brown ins Schlepptau, zeigen Sie ihm den Kartenraum und weisen ihn in die Route ein, die wir segeln werden. Außerdem in die Routinen, die alle auf diesem Schiff zu befolgen haben. Dann gehen Sie mit ihm durch das ganze Schiff. Er kennt wahrscheinlich jede Planke, doch wird es von Vorteil sein, wenn er weiß, was wir geladen haben und wo die Sachen verstaut sind.“
„Aye, Sir“, antwortet Offizier Milton und wendet sich an Simon: „Also, Mr. Brown, los geht’s.“
„Sir“, verabschiedet Simon sich vom Kapitän, „danke für die klaren Worte.“
„Aye, Brown.“ Der Kapitän hebt den rechten Zeigefinger zum Gruß an den Schirm seiner Mütze.
Simon folgt Offizier Milton den steilen Niedergang mit den derben Holzhandläufen hinunter in den Schiffsbauch. Zwei, drei Türen klappen auf und zu, dann stehen sie in einem kleinen Raum mit einem großen, runden Tisch in der Mitte. Es gibt keine Stühle, dafür viele Regale und Schränke an den Wänden, in denen sich aufgerollte Landkarten und Navigationsgeräte befinden. Durch ein großes Fenster fällt das Tageslicht direkt auf den Tisch, den eine ausgebreitete Seekarte der amerikanischen Atlantikküste vollständig bedeckt.
„Das ist also unser Kartenraum, Mr. Brown. Aber Sie kennen ja alles von den Konstruktionsplänen.“
„Stimmt, allerdings sieht es vollständig eingerichtet ganz anders aus.“ Beeindruckt lässt Simon seinen Blick über die Regale schweifen. Dann wendet er sich wieder Milton zu. „Mein Name ist Simon, und ich würde mich freuen, wenn wenigstens wir uns beim Vornamen nennen könnten, da wir uns zudem auch noch eine Kajüte teilen.“
„Gerne, ich bin Callum“, antwortet der andere sichtlich erfreut. „Ich nehme auch an, wir sind etwa gleich alt – ich bin vierundzwanzig und stamme übrigens aus Chicago.“
„Ich bin zwanzig Jahre alt und komme aus Boston.“
„Ja“, antwortet Milton und muss lächeln, „du arbeitest für Ringfield & Lewis. Das hat der Kapitän doch gesagt.“
„Stimmt“, nickt Simon, „aber das mache ich nur nebenbei. Eigentlich habe ich die letzten Jahre in Harvard studiert. Aber das ist eine andere Geschichte …“
„Schau her“, unterbricht ihn Offizier Milton am Kartentisch und zeigt mit einem spitzen Bleistift auf einen Punkt vor der amerikanischen Küste. „Hier in etwa befinden wir uns jetzt. Wir segeln immer nach Süden, bis zu den Westindischen Inseln. Unser nächstes Ziel ist Kingston auf Jamaika. Dort werden wir unsere Ladung vervollständigen.“
„Ist denn noch Platz an Bord?“, wundert sich Simon.
„Platz für Rum ist immer!“, erwidert Callum mit einem breiten Grinsen.
„Rum?“
„Ja, wir nehmen Rum mit nach Java. Soviel ich weiß, ist der schon an einen Händler in Batavia verkauft.“
„Wo liegt Java?“, will Simon wissen.
„Du kennst Java nicht?“ Offizier Milton dreht sich zu einem Regal hinter sich um und beginnt darin zu suchen. „Einen Augenblick, ich finde sie gleich – am besten zeige ich dir Java auf der Karte.“ Schon zieht er ein leicht vergilbtes und zerknittertes aufgerolltes Pergament aus dem Regal und breitet es auf dem Kartentisch aus.
„Schau, Simon“, Callum fährt mit seinem rechten Zeigefinger über die Karte, „hier liegen Indien und die Insel Ceylon, diese Inselgruppe weiter unterhalb, zwischen dem Indischen und dem Pazifischen Ozean, ist Niederländisch-Indien und … mmh … hier haben wir Batavia im Norden der Insel Java. Normalerweise nehmen wir die Straße von Sunda, eine Meerenge zwischen Sumatra und Java. Dann sind wir auch schon fast in Batavia. Aber manchmal segeln wir durch die Straße von Malakka, zwischen Sumatra und Malaysia hindurch. Das hängt davon ab, ob man wieder von Piraten gehört hat. Die soll es in der Gegend geben – gesehen habe ich allerdings noch keine.“
„Was leben dort für Menschen?“, fragt Simon. „Und was sprechen sie für eine Sprache?“
„Auf Java leben Asiaten. Freundliche Menschen mit einem etwas dunkleren Hauttyp.“ Callum muss schmunzeln. „Sie haben keine weiße Hautfarbe so wie wir. Ich finde, dass die Haut mit etwas Farbe hübscher ausschaut, gerade bei Frauen.“
„Zarte, helle Haut ist doch aber der Wunsch der meisten Frauen“, wendet Simon ein. „Deshalb tragen sie im Sommer große Hüte, damit ihre Haut bloß keine Sonne abbekommt.“
„Du hast recht, wobei ich es anders eben schöner finde. Du wirst schon sehen, wenn wir dort sind. Die meisten Menschen, die dort leben, sind übrigens Muslime; die glauben an Allah, gar nicht an Gott.“
„Doch, Callum“, wendet Simon ein, „im Islam ist Allah für die Muslime Gott, genauso wie es Gott für die Christen und die Juden gibt. Das hat uns damals unser Lehrer erklärt.“
„Kann schon sein … Übrigens, unser Rumhändler vor Ort ist Niederländer.“
„Ist er ausgewandert?“
„Java ist eine niederländische Kolonie. Auf meiner letzten Reise habe ich ihn kurz gesehen und er sah nicht asiatisch aus … Vielleicht ist er tatsächlich ausgewandert. Viele Menschen auf Java sprechen Niederländisch, dazu haben sie natürlich noch eine asiatische Muttersprache, die sehr befremdlich klingt. Aber mach dir keine Sorgen, du kommst mit Englisch ganz gut zurecht.“
„Ich mache mir keine Sorgen“, antwortet Simon. „Ich finde das alles ausgesprochen interessant.“
Die nächsten Tage ist Simon sehr damit beschäftigt, sich mithilfe von Callum Milton und Roger Harrison, dem Ersten Offizier, in die praktische Seite der Navigation hineinzudenken und Routine im Lesen der Seekarten zu bekommen. Die beiden Offiziere reagieren mit Erstaunen auf Simons theoretische Fähigkeiten, die er sich aus Büchern und in Gesprächen während seiner Zeit bei Ringfield & Lewis angeeignet hat. Allerdings wird ihm in diesen Tagen auch deutlich, wie wichtig die praktische Erfahrung ist: So kann er zwar mit einem Sextanten seine Position genau bestimmen, aber auf einem wankenden Schiff unter seinen Füßen muss er noch üben.
Gegen Mittag des fünften Tages ist Simon gerade mit einer Nachricht für Roger Harrison auf dem Weg zum Bug des Schiffes, als ihn plötzlich und wie aus dem Nichts jemand anrempelt, sodass er Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Erschrocken blickt Simon sich um und schaut in die scheinbar gefühllosen Augen eines hageren Matrosen mit einer Narbe auf der linken Wange.
„Entschuldigung“, beeilt sich Simon zu sagen, „ich war völlig in Gedanken.“
Der Mann antwortet nicht direkt, murmelt nur ein paar Worte vor sich hin und richtet seinen Blick aufs offene Meer. Simon wundert sich, will aber kein Aufhebens darum machen. Also setzt er seinen Weg zum Bug fort, wo Roger Harrison gerade ein aufgerolltes Tau auf einen Belegnagel hängt.
„Mr. Harrison, Kapitän Mac Brodie lässt ausrichten, dass Sie ihn bei der Wache ablösen sollen. Ich soll hier für Sie weitermachen.“
Harrison schaut kurz auf. „Das ist nicht nötig, Brown, ich zähle nur das Tauwerk durch und bin in ein paar Minuten fertig. Der Kapitän hat auf einer früheren Reise feststellen müssen, dass einige Matrosen mehr als ein Viertel aller Taue in einem Hafen unter der Hand verkauft haben. Das kann bei schwerem Wetter fatale Folgen haben. Daher müssen wir Offiziere uns dann und wann davon überzeugen, dass die Anzahl der Taue an Bord mit der Inventur übereinstimmt.“
„Taue verkaufen? Was hat das für einen Sinn?“
„Ganz einfach: Es bringt Geld in die Taschen der Verkäufer – für Bier, Rum, Whisky und … Frauen!“
„Aber die Taue sind doch lebenswichtige Werkzeuge.“
„Natürlich, aber den Matrosen ist das Geld wohl wichtiger. Sie bekommen in jedem Hafen, den wir anlaufen, zwar einen Abschlag auf ihre Heuer, aber erst wenn wir wieder in New York einlaufen, erhalten sie den Rest des vereinbarten Entgelts. Einige Matrosen sind mit dieser Prozedur nicht einverstanden. Auf manchen Handelsschiffen wird sogar ein Teil der Ladung von Bord geschmuggelt und verkauft.“
„Das kann doch gar nicht sein!“, ruft Simon entrüstet aus. „Für mich klingt die Prozedur ganz in Ordnung. Wo ist das Problem?“
„Es gibt Reeder, die viel versprechen und wenig halten“, meint Harrison.
„Aber doch nicht Henderson Transatlantic!“
„Nein, natürlich nicht. Einige Matrosen haben allerdings schlechte Erfahrungen gemacht und haben deshalb nur wenig Vertrauen. Andere lernen in einem Hafen eine hübsche Frau kennen, und wieder andere lassen sich nach einer ausgiebigen Sauferei ausnehmen. Kurzum: Sie haben nach der Reise genauso wenig Geld wie vorher.“
„Die ersten Tage ist es mir gar nicht so aufgefallen, aber kann es sein, dass relativ wenige Matrosen an Bord sind?“
„Nun, Mr. Brown“, erklärt Harrison, „erstens sind wir kein Passagierschiff und zweitens liegen Matrosen nicht einfach so auf der Straße. Der Beruf ist gefährlich, und man ist eine lange Zeit fern von der Familie. Das will nicht jeder machen. Deshalb ändert sich die Zusammensetzung der Mannschaft auch von Reise zu Reise.“ Der Erste Offizier zeigt unauffällig in Richtung des Hauptmastes. „Sehen Sie den kräftigen, kleineren Mann mit dem dunklen Teint und den schwarzen Haaren? Das ist Alvaro Campillo, ein Mexikaner. Er fährt jetzt das zweite Mal mit uns.“
„Und der dort drüben, hinter dem Hauptmast rechts?“
„Das ist Octavian Bonepeak. Er ist Engländer und fährt das erste Mal mit Kapitän Mac Brodie. Ihn kann ich noch nicht einschätzen – vielleicht ein wenig vorlaut. Der muskulöse Mann neben ihm ist Louis Durand, ein Franzose und ein ordentlicher Kerl. Der ist schon das sechste Mal dabei.“
Noch etwas anderes interessiert Simon. „Auf welchem Schiff sind Sie und Mac Brodie eigentlich vorher gefahren?“
„Nun, ihr Name war Rose, aber diese Blume war langsam wirklich welk geworden. Sehr wahrscheinlich wird sie verschrottet. So wie ich Henderson Senior kenne, wird er aber vielleicht jemanden finden, der ihm dafür noch ein Sümmchen bezahlt.“
„Wie fühlt sich das an, von heute auf morgen auf einem ganz neuen Schiff unterwegs zu sein?“
Harrison muss einen Moment über die Frage nachdenken. Dann meint er: „Es ist genau wie beim Reiten: Jedes Pferd ist eine Persönlichkeit und damit anders, aber kann man eines reiten, kann man sie normalerweise alle reiten.“ Harrison lacht laut auf, um dann das Gespräch mit einem bestimmten „Weiter geht’s!“ zu beenden.
...